Mein kleiner Chinese: Ein China-Roman

Mein kleiner Chinese: Ein China-Roman
Author: Alma M. Karlin
Pages: 390,856 Pages
Audio Length: 5 hr 25 min
Languages: de

Summary

Play Sample

In zwei Wochen sind wir in London.Leb' wohl, Käthe!

Deine Jenny.«

So haben meine nächsten Angehörigen meine Verlobung mit einem Chinesen aufgenommen.

XI.

Tud tukaj solnce gre okrog,
Doline vidim, hrib in log;
Pa solnce naše bolj blišči,
In hrib naš lepše zeleni.
J.Strel.

XI.

Es war der Vorabend unserer Abreise von London. Seit zwei Wochen waren Mama und Jenny bei mir, beide entzückt von meinem künftigen Gatten. Er war geradezu rührend aufmerksam gegen sie. Den ganzen Tag führte er sie herum, zeigte ihnen alle Sehenswürdigkeiten Londons, kaufte Jenny allerlei Schmucksachen, die sie in den siebenten Himmel versetzten, und versprach ihr eine Masse chinesischer Seide, sobald wir nach China kamen. Gegen Mama war er ausgesucht höflich und in jeder Weise zuvorkommend und war ihr, da er gern plauderte und Mama eher mit ihrem Schatten sprechen würde, als nicht den Mund zu öffnen, ein sehr angenehmer Begleiter. Ich selbst genoß nur wenig von ihrer Gesellschaft, da ich die letzte Woche im Amt weilte, wo man nicht sofort eine Stellvertreterin für mich finden konnte. Den Rest meiner Zeit mußte ich den Schneiderinnen und sonstigen praktischen Vorbereitungen widmen. Ich legte eine gewisse fieberische Hast an den Tag und tat alles überstürzt – mir halb unbewußt, wollte ich vor mir selbst, meinen eigenen Gedanken davonlaufen. Mit Mama hatten wir kein längeres Gespräch gehabt – am ersten Tage sagte sie mir, daß mein kleiner Chinese an einen Affen erinnere, am zweiten, daß er ausgesucht gute Umgangsformen habe, und am dritten, daß ich einen besseren Mann weder im Osten noch im Westen hätte finden können, wenn ich mit der Laterne am hellichten Tage nach ihm gesucht hätte – selbst nahm ich alle drei Erklärungen ruhig und mit etwas Unglauben auf – besonders die dritte, aber wozu widersprechen? Es war entschieden, ich ging nach China, und Europa mit seinen Licht- und Schattenseiten lag bald, ach, allzu bald hinter mir. Die Reue ist ein hinkender Bote – und ich wollte nicht bereuen. Sterben, sagte ich mir bitter, kann ich immer noch.

Jenny, die den ganzen Tag vor den großen Auslagen in Regent Street stand, auf der Themse bis Richmond und Hampton Court fuhr, die Albert Hall zu den großartigen Nachmittagskonzerten besuchte und nur die gleißende Seite Londons sah, konnte nicht begreifen, daß ich dieses vermeintliche Eldorado, ohne größeres Bedauern an den Tag zu legen, verließ.Mama und meine Schwester fanden wieder einmal, daß die Käthe kein normales Mädchen sei, und schüttelten mit sichtlicher Teilnahme die Köpfe.

Ich stand lange am offenen Fenster und ließ die kühle Herbstluft um meine brennende Stirn wehen. War ich vom Regen unter die Traufe gekommen, war ich feig gewesen, nicht ein Ende zu machen, als ich schon an der Pforte des Todes stand? Bedeutete mein Entschluß eine Biegung zum Besseren auf dem dornenvollen Lebenspfade, war es jener Schwung im Glücksrade, der mich nach aufwärts tragen würde, und würde ich im Osten finden, was der Westen mir verneint? Oder war es eine jener unglückseligen Stufen, auf die man unsicher tritt, und von welchen man jäh in unerwartete schreckliche Tiefen gleitet? Wer konnte es sagen? Meine Augen klammerten sich an mein Lieblingsgestirn, den großen Bären oder, wie ich vorzog es zu nennen, den Himmelswagen, und schienen um Antwort zu bitten, doch vergeblich. Die Sterne, sie funkelten am nachtschwarzen Himmel in ihrer einsamen Majestät, und was sie mir zu sagen schienen, war dies: »Auch wir sind allein, obschon wir einander so nahe zu sein scheinen. Millionen Meilen trennen oft ein Gestirn vom andern, das, von der Erde gesehen, so nahe am andern liegt, und einsam sind auch die Menschen, denn ihre Körper sind einander nahe, aber die Seelen sind weit, weit entfernt! Wenn du Frieden, wenn du Glück, wenn du vor allem Kraft finden willst, so lerne auf dich selbst vertrauen und dir selbst genügen. « Damals dachte ich, daß die Sterne unrecht hätten – heute weiß ich, daß nur der Mensch leben kann, ohne an innerem Leid zugrunde zu gehen, der gelernt hat, sich selbst zu genügen. Weder um Hilfe, noch um Liebe, noch um Gesellschaft, noch um Anteilnahme zum Nächsten zu schauen. Wer in sich alles findet, – und bis der Mensch in sich alles findet, so daß er in der Welt und doch getrennt und unabhängig – innerlich unabhängig, denn äußerlich bleibt er natürlich stets etwas abhängig von seinen Mitmenschen – lebt, hat Schutz vor dem Leid gefunden. Kein strahlendes Glück kann je wieder die Seele des so von der Menschheit Getrennten durchbeben, weil sein Interesse in dem Nächsten aufgehört hat, aber die Höllenpein zwischen Hoffen und Verzagen erfaßt ihn nie wieder. Er steigt nie mehr in himmelanjauchzender Glückseligkeit zu den Wolken empor, aber er erspart es sich gleichzeitig, aus dem siebenten Himmel auf die Erde zu fallen, und ist süß das Emporfliegen, so ist vernichtend bitter der Sturz, der in uns alles zerbricht, was das Leben wertvoll macht – Hoffnung, Glaube, Liebe, Vertrauen auf andere, den Trieb zur Besserung, zur Vervollkommnung, das Mitleid mit den Unglücklichen und die warme Mitfreude mit den Glücklichen – alles schwindet, und zurück bleibt jene Ruhe, die kein Glücksfall und kein neues Unglück bedeutend erschüttern kann. Wohl dem, den ein gnädiges Geschick davor bewahrt hat, den Gipfelpunkt irdischer Zufriedenheit in dieser Unempfindsamkeit zu suchen – und zu finden! An jenem Abende habe ich die Lektion noch nicht erlernt gehabt, die Sehnsucht nach der Liebe meiner Mitmenschen, nach Glück, war noch nicht erloschen, daher führte das unerbittliche Geschick mich nach China, um dort den Unterricht fortzusetzen, und was vom Schicksal selbst gelehrt wird, o Leser! – das erlernt man. – –

Es klopfte.Ich wandte mich verwundert um, denn Mitternacht hatte es längst geschlagen, und alle Leute im Hause waren zur Ruhe gegangen.In einem langen wallenden Nachtgewande, mit einer brennenden Kerze in der Hand, die schönen braunen Augen weit geöffnet, stand Jenny vor mir.

»Schwesterchen,« fragte ich, indem ich ihr die Kerze aus der Hand nahm und sie neben mich auf mein Sofa, das Bett, zog, »warum wanderst du noch durch Gänge und über Treppen nach der grausigen Mitternacht, wie einst der Geist von Hamlets Vater?«

»Käthe,« flüsterte sie, indem sie ihre weichen Arme um meinen Hals schlang, »ich bin vielleicht nicht immer eine gute Schwester gewesen und habe dich schrecklich vernachlässigt.Verzeih mir!«

»Du bist eine ebenso gute Schwester gewesen wie ich es verdient habe,« entgegnete ich und liebkoste Jenny.

»Ich fürchte mich um dich, Käthe,« sagte sie weich.

»Das brauchst du nicht, Jenny,« beruhigte ich sie, »mir droht nicht Gefahr, und – ich habe meine Zukunft selbst gewählt.«

»Schwester,« begann Jenny nach einer kurzen Pause von neuem, »ihr küßt euch nie.«

»Küssen ist im Orient nicht Sitte, man findet, daß es sehr unhygienisch sei, und daher gibt man sich im fernen Osten nicht einmal die Hand, wenn man sich begegnet, sondern schüttelt seine eigene Hand an Stelle derjenigen des Bekannten – eine weise Vorsichtsmaßregel in einem Lande, wo so viele ansteckende Krankheiten epidemisch und die sanitären Einrichtungen keineswegs auf der Höhe sind,« gab ich zur Antwort.

»Bist du auch schon so hygienisch geworden, Käthe?« fragte sie und sah mich groß an.

»Ich füge mich den Sitten des Orients,« entgegnete ich ausweichend.Ich wollte meiner Schwester nicht eingestehen, daß ich noch nicht so sehr »hygienisch« in meinem Empfinden geworden war.

»Hat er dich nie – nie geküßt?« fragte Jenny, die so etwas ganz und gar nicht fassen konnte.

»Nein, nie,« versetzte ich lachend.Denn Jennys Augen waren so rund vor Verwunderung wie die eines Kindes.»Einmal hat er allerdings gesagt, daß er es versuchen würde, wenn ich eines Tages nicht einen Hut aufhaben würde, aber bisher,« ich blickte sie schelmisch an, »habe ich immer einen Hut aufgehabt.«

»Himmel!« rief Jenny entsetzt, »und es ist ihm nie eingefallen, den Hut abzunehmen?«

»Wenn wir verheiratet sind, werde ich keinen Hut auf dem Kopfe haben, und darauf wartet er wahrscheinlich,« versuchte ich als Erklärung anzuführen.

»Glaubst du,« fragte sie mit einer urkomischen Ueberlegenheit, »daß Doktor Wurmbrandt sich hätte – natürlich wenn er mich liebhaben würde – abhalten lassen durch einen Hut und selbst, wenn dieser so groß wie ein Wagenrad gewesen wäre? «

»Liebste Jenny,« erwiderte ich lachend, »nicht, wenn dein Hut den Umfang einer Moschee gehabt haben würde, aber du vergißt, daß der Doktor eben – Europäer ist.«

»Ein Mann, der nicht küssen kann, der – der ist nicht heiratsfähig.« Jennys Entrüstung war so groß, daß sie meine ernsten Gedanken verscheuchte und ich über die unschuldigen Ansichten des Kindes herzlich lachen konnte.

»Jenny,« neckte ich meine Schwester, »wie oftmal denkst du an den Doktor?«

»Oh – nicht – nicht so sehr, sehr oft, Kather,« sagte Jenny nachdenklich.

»So etwa sechzigmal die Minute?« fragte ich gelassen.

»Aber Kather, wie kannst du –?« wehrte Jenny, erglühte aber wie eine Pfingstrose.

»Jenny,« bat ich sie, »hab' ihn recht lieb, und spiele nicht mit allen Männern, die du triffst.Glaube mir, Kind, Huldigungen sind angenehm, aber ein treues Herz, auf das man wirklich bauen kann, ist tausendmal schöner und kostbarer.«

Jenny küßte mich und gelobte mir, so wenig kokett wie möglich zu sein. »Ueber sein Können ist niemand verpflichtet,« sagt ja selbst Goethe, und ich verlange auch nur, daß Jenny ihr Bestes in dieser Hinsicht leisten würde. Blicke mit Vorübergehenden und Mitreisenden würden trotzdem noch zur Genüge – und darüber hinaus – gewechselt werden.

Ein ernstes Gespräch ließ ich nicht aufkommen.Meine Schwester war zu jung, zu unerfahren, um mich zu verstehen, und um nichts in der Welt hätte ich mich verleiten lassen, ihre schönen Jugendillusionen zu zerstören, ihr die Erde – das Leben auf derselben eigentlich – so zu zeigen, wie es wirklich war oder wie ich wenigstens es gefunden hatte.Mein bitterer Pessimismus sollte nicht einen Augenblick die frohe Zuversicht meiner Schwester trüben.Als es zwei Uhr schlug, hüllte ich Jenny in ein langes Tuch ein, zündete ihr Kerzenstümpfchen wieder an und schob sie gebieterisch zur Tür hinaus.

»Du mußt schlafen, Jenny,« ermahnte ich sie, »du weißt, daß Mama mit ihrem Bahnfieber dich um sechs Uhr wecken wird, damit wir um zehn Uhr pünktlich auf der Station sind, und auch du, Fräulein Eitelkeit, wirst diese Zeit gut verwenden können, um dich so hübsch wie möglich zu machen.Jenny, Schwesterchen, ich kenne dich!Gute Nacht!«

»Noch eine Frage, Käthe,« bat sie schmeichelnd, »eigentlich kam ich nur deshalb zu dir.Wie werden deine Kinder sein?Weiß oder gelb?«

Ich schob sie sanft zur Tür hinaus und sagte lachend und geheimnisvoll:

»Gesprenkelt! «

Ich hörte, wie Jenny vor der Tür vor lauter Entsetzen und Ueberraschung nach Atem rang, öffnete daher die Tür noch einmal eine Spanne weit und flüsterte ernst:

»Sei doch kein Gänschen, Jenny – hoffentlich werde ich keine Kinder haben – gesprenkelt sicher nicht,« damit schloß ich die Tür endgültig.

Um halb zehn Uhr vormittags waren wir alle pünktlich auf dem Bahnhof – Victoria Station – versammelt.Meine europäischen Freunde hatten schon gestern von mir Abschied genommen, und da die allermeisten gegen diese Heirat waren (Engländer sind noch mehr gegen Mischung der Rassen als andere Europäer), so stand ich unbegleitet auf der grauen Plattform der düsteren Halle.Um so zahlreicher vertreten war die chinesische Kolonie.Einige konnten kein Wort außer Chinesisch, und wir nickten uns gegenseitig nur zu, andere sprachen etwas Englisch.Sie alle umringten Ming Tse, der seiner Schenkungsseligkeit wegen sehr beliebt war, wenn er ihnen auch oft unangenehme Wahrheiten mit verblüffender Aufrichtigkeit sagte.Mehrere von ihnen brachten Körbchen voll herrlichen Obstes – Trauben die einen, Pfirsiche die andern, und ein Chinese brachte eine Tüte rotbackiger Aepfel, mit denen Jenny schon jetzt liebäugelte.

Um zehn Uhr wurde das Abfahrtssignal gegeben, und der lange Zug setzte sich in Bewegung. Am Korridorfenster stand Li Bai und winkte seinen Freunden zu, solange man noch ein Viertel eines einzigen Chinesen in der Ferne erkennen konnte, und war noch einige Zeit nachher etwas einsilbig. Lange jedoch, bevor wir nach Queenborough kamen, plauderten wir alle höchst vergnügt miteinander.

Ming Tse, der ein reizender Reisekamerad war, breitete sein lichtblaues Seidentaschentuch über meinen und Jennys Schoß aus und verteilte Früchte. Mama wollte an der Fütterung vorläufig nicht teilnehmen, aber Jennys weiße Zähne bissen mit sichtlichem Behagen in die appetitlichen Aepfel. Ihr war die Reise ein großer Spaß, Mama ein wichtiges Ereignis, das feierlich behandelt und durchgeführt werden mußte, Ming Tse eine Genugtuung sondergleichen, da er endlich in die geliebte Heimat zurück durfte, und mir – eine Frage an das Schicksal, die Entscheidung über meine ganze Zukunft. – Und dennoch hatte nicht einer der drei Mitreisenden, die mir doch am allernächsten auf der Welt standen oder bald stehen würden, die blasseste Ahnung von dem, was in mir vorging, und infolgedessen das allergeringste Mitleid. Nicht einer von ihnen hätte mich verstanden, wenn ich gesprochen hätte, und so betrug ich mich als guter Gefährte, lachte und scherzte mit ihnen und fühlte mehr denn je, was für eine elende Komödie das Leben war, wo man immer und vor allen Leuten eine Maske tragen mußte und doch noch froh war, daß man das Recht hatte, eine Maske zu tragen, die einen vor dem Hohn der Mitmenschen, die anders dachten, schützen konnte.

In Queenborough verließen wir den Zug, um uns auf das Schiff zu begeben. Erst Mama mit einem Träger an ihrer Seite, dem sie ununterbrochen wiederholte, so schnell wie möglich zu gehen. Das erbitterte ihn so, daß er ihr mitteilte, die Sturmflagge wehe schon vom Mast – während in Wirklichkeit nicht ein Lüftchen sich regte, und ein so glänzend blauer Himmel, wie er nur selten über Großbritannien lacht, sich über unsern Häuptern wölbte –, hinter ihr Jenny mit den Fruchtkörbchen und einer Hutschachtel, dann ich, ebenfalls mit mehreren Schachteln beladen, und endlich Ming Tse, der zwei Träger beaufsichtigte. Die großen Koffer waren alle vorausgeschickt worden, was wir mitführten, war lediglich Handgepäck, und trotzdem wälzten wir uns wie eine Karawane heran. Sobald wir das Schiff betreten hatten, ging Mama zum Kapitän und erkundigte sich, ob wir in der Tat untergehen würden, was er verneinte und Mama gelobte, sein Möglichstes zu tun, eine so furchtbare Katastrophe abzuwenden. Er sprach mit großer Ernsthaftigkeit, aber um die Mundwinkel zuckte es verräterisch, und seine grauen Augen blinzelten mir, sooft ich näherkam, vielsagend zu. Die arme Mama, die das Fahren auf dem Meere nicht verträgt, verschwand in eine Kajüte und blieb trotz des herrlichen Wetters und der spiegelklaren See verschwunden, so lange wir nicht festen Boden unter uns hatten, Ming Tse schob uns Mädchen in eine Ecke und setzte sich als Haremswächter davor. Seine Augen schossen Blitze, sooft sich ein männliches Wesen uns näherte, und Jenny sah sich daher gezwungen, jeden Flirt zu unterlassen. Dagegen fütterte er uns die ganze Zeit mit den herrlichen, riesengroßen Pfirsichen, an die ich noch jetzt mit Genuß zurückdenke – gewiß die schönsten, die ich gesehen oder gegessen hatte.

Nach einer Weile begann die alte Baracke – denn diese holländischen Schiffe sind klein und armselig ausgestattet – trotz des klaren Himmels und der ruhigen See ein wenig zu wackeln, was Ming Tse veranlaßte, sich tiefer in den Reiseplaid zu wickeln und steinunglücklich dreinzuschauen.Jenny benützte die Schwäche des Wächters dazu, auf das Hinterdeck zu entfliehen, wo sie ihre Blicke über die Fluten, über den Himmel und – über die Mitreisenden, über letztere nicht am wenigsten, gleiten ließ.

»Gott sei Dank, daß du nicht wie deine Schwester bist,« brummte mein Verlobter.»So ein Mädchen ist die reine Pest.«

Wir unterhielten uns besonders über einen alten Juden, der uns nahe saß und aus einem schmutzigen Papier heraus ein Stück Fleisch wickelte, was ich als Ueberreste eines Huhns, er als die eines Kaninchens betrachtete.

Der Vorfall erinnerte mich an eine merkwürdige Episode in Ming Tses Londoner Existenz. Er erhielt einst, ohne es zu wissen, ein Kaninchen vorgesetzt und war so böse, als er erfuhr, was er gegessen hatte, daß er sofort ausziehen wollte. Kein Wunder! Da sein Vater nie Kaninchen verspeisen durfte, war es dem Sohne auch nicht erlaubt, und ich erinnerte mich, daß der arme Chinese eine ganze Menge Brechpulver einnehmen mußte, damit das widerspenstige Kaninchen wieder herauswanderte, denn drinnen bleiben durfte es nicht – das wäre ein himmelschreiendes Verbrechen gegen alle seine Vorfahren gewesen. Folglich quälte ihn der Anblick des Juden und des Kaninchens in einem solchen Grade, daß er überall herumging, nur um diesen zwei Schreckgestalten auszuweichen. Mich wickelte er vorsichtig in einen großen, warmen Plaid und schob den Deckstuhl so nahe an das Schiffsende heran, daß ich nichts als die Fluten übersehen konnte. Er selbst suchte und fand Jenny.

»Ihre Schwester braucht Sie,« sagte er kurz.Dann fügte er hinzu: »Sie haben genug herumgeschaut, die armen Männer müssen endlich Ruhe haben,« – sprach's und schob sie, die ihn um Kopfeslänge überragte, gebieterisch in meine Richtung.

»Jenny,« fragte ich sie, sobald Li Bai außer Hörweite war, »hast du nur diese Blusen mit kurzen Aermeln und ausgeschnittenem Halse?«

»Gewiß,« lautete die Antwort. »Mama sagt, ich habe so schöne Arme und einen hübsch geformten Hals – warum soll ich ihn da zudecken, wie du den deinen? «

»Schwester, sei nicht so maßlos eitel und sprich nicht immer von deinen Vorzügen, du wirst dich Fremden gegenüber lächerlich machen.Dies ist jedoch nur nebenbei bemerkt,« sagte ich, als ich sah, daß Jenny beleidigt die Lippen aufwarf, »ich wollte dich nur bitten, immer lange Aermel zu tragen und auch einen hohen Kragen zu wählen, so lange du im Orient bist.Die Orientalen finden es im höchsten Grade abstoßend und unmoralisch, so gekleidet zu gehen.Tust du es, wirst du dir viele Unannehmlichkeiten zuziehen.«

»Oh, Unsinn,« erklärte meine Schwester, legte aber in Zukunft doch Blusen, wie ich sie vorgeschlagen hatte, an.

Ming Tse kam zu uns zurück.»Wollt ihr nicht Kaffee trinken, Kinder?« fragte er.

Ich, die ich ahnte, wie der Kaffee auf dem Schiff sein würde, lehnte sofort ab und riet den andern, mir nachzutun.Jenny tat es, Li Bai aber ging mutig in die Tiefen.Als eine Viertelstunde nach der andern verging und er nicht zurückkehrte, ging ich auf die Suche nach ihm aus.Er taumelte mir bei der Treppe entgegen, wankte auf die Brüstung zu und sah wie ein Geist aus.

»Was ist dir geschehen, Li Bai?« fragte ich besorgt.

»Kaffee! « war die einzige Antwort. Gleich darauf verlangte der Meergott seinen Tribut und – erhielt ihn.

Erst als ich nach einer Weile den armen Chinesen in einen Deckstuhl verpackt und mit einem Reiseplaid umwickelt hatte, erzählte er, daß er nach langem Warten einen teuren Kaffee bekommen hatte, der keinen Geschmack und wenig Farbe besaß, ganz lauwarm war und ihn sofort seekrank machte.Er schimpfte auf die Holländer, als ob die ganze Nation nur schlechten Kaffee kochen würde, und hat noch heute eine sehr unschmeichelhafte Meinung von Holland und seinen Bewohnern.

In Vlissingen kehrte Mama zur Oberfläche als handelndes Menschenkind zurück, und auch Ming Tse stand wieder sicher auf seinen zarten Beinen.Der Kapitän nickte Mama wie einer alten Bekannten zu und war stolz darauf – wie er ihr versicherte –, sie so gut an allen Gefahren vorüber in den Hafen geführt zu haben, doch Mama sah gar nicht so dankbar aus als man Ursache hatte zu vermuten, und Li Bai sah den Kapitän, das Schiff und die Besatzung so wütend an, als wollte er ihnen allen einen Paß zum Reiche der Seejungfrauen ausstellen.

Kaum war die Zollrevision vorüber, wollte Ming Tse etwas essen und weigerte sich, den Berliner Expreß zu betreten, bevor er wußte, und aus guter Quelle wußte, daß der Speisewagen mitfolgte. Erst als wir uns im Wagen gegenübersaßen und uns die überstandene Fahrt nur ein Traum schien, tauten Mama und der kleine Chinese, die beide bei den Göttern und Heiligen ihres Landes schworen, nie wieder die Planken eines Schiffes zu betreten, ein wenig auf.

An der deutschen Grenze war wieder Zollrevision, und hierauf durften wir schlafen.In Berlin blieben wir nur einen halben Tag, und mir tat es wohl, nach langer Zeit wieder in einem Lande zu weilen, wo man meine Sprache sprach.Jenny war selig, »Unter den Linden« einige Einkäufe machen zu können, und Ming Tse war ebenso unermüdlich wie sie im Wählen allerlei Kleinigkeiten, die man nach China mitführen sollte.Am Abend verließen wir Berlin, und Jenny drückte ihr Näschen an die Scheiben, um acht Uhr abends das Nachtleben Berlins vom Zuge aus beobachtend.Natürlich neckten wir sie hinterher und fragten, was ihr vom »Nachtleben« am besten gefallen habe.Ich freute mich innig, daß meine Schwester noch so beglückend naiv war, und bedauerte, Mama zugeredet zu haben, sie nach China mitzunehmen.Jetzt war eine Aenderung nicht mehr zulässig.

An der russischen Grenze leerte man unsere Koffer einfach auf den schmutzigen Bahnsteig aus, und die Zollbeamten – oder wie mein Vetter sie zu betiteln pflegte, – die Kofferspione – fuhren mit ihren zweifelhaft reinen Händen schauerlich unter den Sachen herum. Li Bai, der seinen Koffer mit der ihm eigenen Pedanterie gepackt hatte, sprach chinesisch – kaum Kosenamen, denke ich mir –, und ich hatte große Mühe, den übervollen Koffer wieder zu schließen. Ich bat daher Jenny, sich darauf zu setzen, damit ihr Gewicht den störrigen Gesellen eines Besseren belehren möge, aber da kam ich schön an. Li Bai entließ uns mit einem Blicke und einer Handbewegung, die keine Feder hinreichend wiedergeben könnte und packte meinen Koffer selbst. Jenny fiel beinahe in Ohnmacht, als sie bemerkte, was für Kleidungsstücke dabei notwendigerweise durch seine kleinen Hände wandern mußten, aber ich habe in der Hinsicht stärkere Nerven. Der fertige Koffer war ein Meisterwerk, und wohl oder übel mußte sich Jenny demselben Schicksal unterwerfen, denn Ming Tse sagte mit mehr Wahrheit als Höflichkeit:

»Ihr könnt beide nicht einen Koffer packen.«

Bei der Paßrevision und auch im Speisewagen half mir meine Kenntnis des Russischen, was meinen Reisegefährten sehr imponierte, weil sie mit der Sprache des Zarenreiches gar nicht vertraut waren. Sie half mir auch sehr in Moskau, wohin wir am folgenden Tag spät abends gelangten und im Hotel l'Europe abstiegen, wo man die Sprachen der ganzen gebildeten Welt hören konnte. Herrlich schönes Moskau! Früh am nächsten Morgen stand ich auf dem kleinen Balkon und sah hinweg über die unzähligen Kuppeln und Türme, die malerischen Gebäude dieser echt russischen Stadt, mit dem Kreml im Hintergrund und dem flutenden Verkehr zu meinen Füßen. Wir waren im Oktober und die Blätter der Bäume wiesen alle Farbennuancen vom hellsten Gelb bis zum tiefsten Braun auf, rote Blätter funkelten dazwischen hervor und der tiefblaue Herbsthimmel, auf dem die aufgehende Sonne eben einige Wölkchen rosig färbte, bevor sie die Kuppeln und Baumspitzen küßte, rief in meinem Herzen allerlei Gefühle wach, von denen das stärkste jedoch der Wunsch war, das, was ich jetzt in mir widerklingen hörte, durch den Pinsel oder die Feder verewigen zu können. Die Größe und reine, erhabene Schönheit der Natur verglichen mit unserem armseligen Haschen und Jagen – wonach? Die ewig wiederkehrende Frage des »Seins oder Nichtseins«, das beseligende Bewußtsein, daß alles Kleinliche in solchen Augenblicken von uns abfällt wie ein altes Kleid, dessen wir länger nicht bedürfen, ein Verlassen des eigenen Ichs, um sich über die Erde hinaus in unbekannte Welten zu schwingen – alles dies bewegt die Seele bei dem Anblick reiner Schönheit, und muß man auch bald in die graue Wirklichkeit zurückkehren, bleibt doch der Eindruck des Gesehenen zurück und zittert als schöne Erinnerung noch lange in uns nach.

»Käthe,« rief in diesem Augenblick Mama, »ich wünschte, du würdest nicht eine halbe Stunde lang mit der Nase auf die Wolken gerichtet stehen, sondern lieber auf deine Toilette schauen.Deine Krawatte sitzt schief.«

»So richte sie bitte,« erwiderte ich müde. Was war eine Krawatte gegen das Universum?

»Aber Käthe,« entfuhr es Jenny, »hast du wirklich Lust auf dem Balkon zu stehen, wenn alle Gäste noch schlafen?Jetzt ist ja niemand zu sehen.«

»Jenny,« erwiderte ich ernst, »ich schaue nicht die Leute an – die interessieren mich nicht.Ich blickte,« setzte ich träumerisch hinzu, »auf die Schattierungen der Blätter und die Farbenabstufung am Himmel.«

In diesem Augenblick trat Ming Tse ein.

»Käthe studiert Farbenabtönungen am Himmelsbogen und darunter,« rief meine Schwester ihm entgegen.

Ich zog Li Bai auf den Balkon.»Ist es nicht wunder-, wunderschön?« fragte ich ihn und legte unwillkürlich meine Hand auf seinen Arm, als wollte ich etwas von dem, was mich so stark bewegte, durch Magnetismus auf ihn übergehen lassen.

»Nichts zu sehen,« bemerkte er gelassen.»Komm zum Frühstück!« Damit schüttelte er meine Hand ab und folgte den anderen hinab in den Speisesaal.Ich kam mir wieder einmal vor wie ein Schiffbrüchiger auf einer einsamen Insel, der in der Ferne ein Schiff sieht, dessen Aufmerksamkeit er aber nicht erregen kann.So ging auch ich hinunter und – frühstückte.

Ueber die Sehenswürdigkeiten Moskaus will ich hier nicht sprechen – eine Reisebeschreibung soll dieses Werk nicht werden – genug, wir besahen alles, was dort von Interesse war und verweilten zwei Tage in dieser Stadt. Ming Tse war zuvorkommend wie immer, unser Verkehr rein freundschaftlich und wohl niemand, der uns Seite an Seite durch die Straßen der alten Stadt wandern sah, hätte glauben können, daß hier zwei Verlobte dahinmarschierten, so weit entfernt voneinander gingen wir, und so ruhig und leidenschaftslos waren unsere Züge. Mama fand unsere Haltung äußerst comme il faut, Jenny lächerlich und ich? Ich dachte an jene längstentschwundene Zeit zurück, wo selbst ich davon geträumt hatte, daß man als Braut im irdischen Paradiese schwebe, daß eine unbekannte, früher ungeahnte Seligkeit das Herz schneller schlagen, das Blut schneller kreisen lasse. Die Glückseligkeit war entschieden nicht europäisch – aber die Ruhe, die gleichmäßige Heiterkeit, die ich im Verkehr mit Li Bai fand, war nicht zu verachten – es war der orientalische Abglanz, voilà tout!


Sonnabend! Jennys Wangen glühen vor Aufregung, Mama empfiehlt ihre Seele und besonders den Körper dem großen Geist, betend, daß sie mit dem Kopf auf dem Rumpfe wohlerhalten wieder nach Moskau zurückkommen möge, Ming Tse freut sich wahnsinnig auf das endliche Wiedersehen mit seiner Mutter, und ich wünsche aus ganzer Seele, daß die Zukunft lichter als die Vergangenheit werden würde; so stehen wir alle gegen Mitternacht auf dem großen und belebten Kursk-Nishninowgoroder Bahnhof und warten auf den sibirischen Zug, der uns in das Reich des fernen Ostens tragen soll. Endlich wird das Abfahrtszeichen gegeben, wir betreten unsere Abteile, die wie kleine Zimmer sind, die man nach Belieben sperren kann, sooft man sie verläßt und wo alles sehr bequem und elegant ist. Noch ein Blick über Moskau mit seinen Hunderten von Lichtern, den dunklen, kaum sichtbaren Kuppeln und Türmen, und wir sausen durch die mondhelle Nacht über die große Ebene rund um die Wolga, auf der die unzähligen Schiffe auf- und niederfahren, von denen in den warmen Sommermonaten ununterbrochen Gesang ertönen soll – die melancholischen Lieder erklingen da aus den Kehlen der Schiffer, die damit die Unbehaglichkeiten der Reise zu mildern suchen. Nun war alles still, nur das fahle Mondlicht beleuchtete das nächtliche Rundbild. Die drei Mitreisenden verfügten sich in ihre Zellen, ich aber lag, überkommen von dem Gedanken, Europa vielleicht auf Jahre, vielleicht auf immer, Lebewohl gesagt zu haben, die Nacht hindurch wach und blickte, als sich endlich die schweren Morgennebel hoben, auf das in der Ferne auftauchende Hügelland.

Li Bai klopfte schon früh an meine Türe, und da die beiden Damen noch schliefen, gingen wir allein in den Speisesaal, wo ein dicker Mann uns gegenüber Platz nahm. Ich mochte kaum einen Schluck getan haben, als er trotz meiner abwehrenden Haltung ein Gespräch anfing, und da ich russisch konnte und Li Bai nicht, fiel die Bürde der Unterhaltung auf mich. Es stellte sich heraus, daß mein Gegenüber ein wohlhabender Pferdehändler war, der bis Samara mitfuhren wollte, und da ich mich interessierte, wann wir dahin kommen würden, ging er gleich daran, im Fahrplan die Ankunftszeit zu finden.

Mein kleiner Chinese sah wie eine dräuende Gewitterwolke aus, obschon ich immer wieder das Gespräch mit dem Fremden unterbrach, um ihm alles zu übersetzen, und als er nun merkte, daß der Händler mir galant allerlei Ankunftszeiten auf ein Stück Papier schrieb, war er so böse, daß er mich fragte:

»Wozu braucht der Mensch da höflich gegen dich zu sein?Und wozu braucht er dir Ankunfts- und Abfahrtszeiten herauszuschreiben, dieser dicke Idiot!?Haben wir nicht selbst einen Mund unter der Nase und zwei Augen oberhalb derselben, so daß wir selbst fragen und herausfinden können, was wir wollen?«

Damit faßte er mich am Arm und zog mich hinter sich durch den ganzen Zug, bis wir vor Mamas Zelle standen, an die er klopfte.

»Mama,« rief er, sobald er sie begrüßt hatte, »hier bringe ich dir die Käthe.Wenn ich nicht auf sie achtgegeben hätte, wäre sie mit einem Pferdehändler, der nach Samara fährt, durchgebrannt!«

Seine geschlitzten Augen sahen in diesem Augenblicke keineswegs übermäßig hübsch oder angenehm aus.

Mama dankte ihm aus voller Seele, wenn auch mit einem Lächeln um die Lippen, Jenny aber warf sich auf das Bett, strampelte vor Vergnügen mit den Beinen und lachte, daß ihr die Tränen über die Wangen liefen.Für den Rest des Tages wich Li Bai nicht von meiner Seite, und ich fragte mich, wie es werden würde, wenn ich einmal in China sei.Seinem Versprechen gemäß sollte ich das Recht behalten, auszugehen, sooft ich dies wünschte, wenn er auch gänzlich abgeschlagen hatte, mich meinen Beruf dort weiter ausüben zu lassen.Wie nur alles enden würde?Vorläufig unterhielt mich sein Betragen nur.

Am zweiten Tage gegen Mittag kamen wir nach Samara, und von da an begann eigentlich erst so recht die Reise. Russen aller Arten standen in ihren etwas schmutzigen Kleidern auf dem Bahnhof und warteten auf den gewöhnlichen sibirischen Zug, der mit russischer Gleichgültigkeit gegen das Sprichwort »Zeit ist Geld« innerhalb der nächsten zwei bis drei Stunden eintreffen sollte. Auf allen Stationen hält der einfache sibirische Zug; die armen Auswanderer, denen es beinahe ebenso schlecht wie den Gefangenen geht, können aussteigen und sich heißes Wasser holen, womit sie ihre Teevorräte erneuern, und die Eisenbahnbeamten behandeln sie nicht viel besser als Tiere. Man erzählt sich, daß ein Zugführer einst einigen armen Russen, die auch auf einer solchen Station ausgestiegen waren, höflich sagte: »Meine Herren, es ist Zeit zum Einsteigen! « aber niemand nahm irgendwelche Notiz davon. Nach dem zweiten Glockenzeichen sagte er: »Einsteigen, bitte! « doch ganz ohne Erfolg. Diese Unglücklichen glaubten nicht, daß die Aufforderung an sie gerichtet war, und erst als er hinzutrat und sie anschrie: »Verdammtes Pack, seht zu, daß ihr augenblicklich in den Zug kommt,« verstanden sie, wer gemeint war, und eilten auf ihre Plätze.

Der Zug flog über die weite Ebene von Batraki, die mit ihrer Abwechslungslosigkeit ununterbrochen bis Kinel fortdauert und erst bei ihrer Kreuzung mit der Hügelkette unweit des Padowaflusses ein Ende nimmt, während wir in dem bequemen Zuge saßen, wo wir einen Lesesaal mit guter Bibliothek und vielen Zeitungen hatten, in dem man Schach spielen konnte und wo man so viele Briefe an kleinen Tischchen schreiben konnte, als man nur wollte. Da waren Badezimmer und Küche, der schöne Speisewagen und der elegant möblierte, mit vielen weichen Sitzgelegenheiten ausgestattete Salon, die netten Schlafzimmerchen und die langen Korridore, durch die man von einem Ende des Zuges zum andern gehen konnte. Da es schon ziemlich kühl war, wurde der Zug geheizt, was den Aufenthalt überall sehr angenehm gestaltete. Ming Tse und Jenny wanderten wie Kinder durch alle Räume, untersuchten alles, freuten sich über jede Entdeckung und waren ganz gleichgültig gegen die Gegenden und die Orte, die wir passierten. Der Zug fing in voller Fahrt das nötige Wasser aus der der Strecke angrenzenden Wasserleitung auf und brauste mit unverminderter Fahrt durch die Stationen, auf denen wir nur wie im Fluge Soldaten und Gefangene stehen sahen. Lange lagen am Morgen die Nebel über der Landschaft, und früh schon sank am Abend die Dunkelheit herab.

Am folgenden Tage erspähten meine Augen endlich den erwarteten schlichten Grenzobelisk, auf dem mit russischen Buchstaben »Europa – Asia« stand und an dem wohl manch' ein armer Verbannter mit Schaudern vorbeigegangen.Hier mußte man Abschied nehmen von der Zivilisation, nun waren wir in Asien, dem gefürchteten Sibirien.Ach, auch ich hatte Europa jetzt hinter mir gelassen – wie, wie würde ich Asien finden?

Li Bai kam gelaufen.»Mutter, Käthe, kommt, jetzt kommen die hängenden Brücken, die großen Schluchten!«

»Der Ural?« fragte ich lebhaft und war augenblicklich am Fenster, Mama gleichfalls.

»Es ist ja gleichgültig, wie der Berg heißt,« meinte Li Bai, »hübsch ist die Gegend.«

Ich vergab ihm gern seine Unwissenheit und Gleichgültigkeit, verriet er doch zum ersten Male, daß die Schönheit eines Gegenstandes (außer Kleidern) auf ihn wirkte. Es war auch großartig, was wir sahen. Vorüber ging die Fahrt an herrlichen Bergseen, in denen sich der Schnee der Berggipfel klar spiegelte, an Abhängen, über die Schwebebrücken führten, an Aushöhlungen vorbei, die majestätisch in ihrer Großartigkeit wirkten; Abgründe erblickten wir, die uns den Atem benahmen und in denen wir Gießbäche wild rauschen hörten; bald führte die Bahn durch einen künstlich gebildeten Unterbau dahin, bald bahnte sie sich den Weg durch einen endlosen Tunnel, immer wechselnd, immer Bewunderung erregend. Zwischen Zlatoust, »dem goldenen Mund«, und Urshumka erreicht sie endlich ihren Höhepunkt. Mächtige Kurven, wilde Wasserfälle und schroffe Felswände verleihen auch weiterhin der Strecke großen Reiz.

Jenny hatte einen großen Bewunderer gefunden, der ihr auf Tod und Leben den Hof machte und uns alle interessanten Punkte erklärte, nicht nur während wir sprachlos vor Staunen und Entzücken den Ural kreuzten, sondern auch später, als er uns auf die Aushöhlung des Dergatsch, ein wahres Meisterwerk, aufmerksam machte. Er belehrte uns, daß nur einundzwanzig Werst vom malerischen Orte Ssuleja, an dem wir wie der Wind vorbeisausten, das berühmte Bakalsche Grubenwerk liegt, welches überreich an Eisenerz – vielleicht das reichste Sibiriens – ist, und erzählte, daß in dem Museum von Zlatoust ein Nagel aufbewahrt werde, den Kaiser Alexander I. eigenhändig geschmiedet haben soll. Kurz, der Russe war ein sehr angenehmer Gesellschafter für Jenny und Mama. Ich durfte freilich nicht viel mit ihm sprechen, sonst sah Li Bai drein wie ein vierzehntägiges Regenwetter mit gelegentlichem Schauer und Donnerwetter.

Trotzdem der Russe gewiß nicht zehn Worte mit mir gewechselt und sein ganzes Herz – so schien es wenigstens – Jenny zu Füßen gelegt hatte, sah Li Bai ihn doch mit Vergnügen bei Tschelabinsk den Zug verlassen, um mit der Zweigbahn nach Jekaterinenburg zu fahren, wo er Geschäfte hatte.Es war der Vorabend meines Geburtstages, und als mir Ming Tse zum Abschied die Hand reichte, zog er mich plötzlich etwas von Mama und Jenny weg und flüsterte mir geheimnisvoll zu:

»Ich habe etwas sehr Hübsches für dich, Käthe, für morgen,« und er hielt einen Augenblick inne, »und morgen werde ich dich – küssen!« Sprach's, drückte meine Hand noch einmal und verschwand in sein Schlafabteil.

Ein Europäer hätte wahrscheinlich gefunden, daß er der gewinnende Teil bei diesem Vorgang wäre, aber Li Bai sagte es mit dem Tone und der Miene eines Menschen, der sich vollauf bewußt ist, welche unendliche Großmut er dem Gegner zeigt und welch unschätzbare Gnade damit verliehen wird. Ich war unglaublich gespannt, wie er sich dabei ausnehmen werde und wie mich diese seine Zärtlichkeit berühren würde. Ich war sogar ängstlich, da ich gegen jedwede Berührung außergewöhnlich empfindlich bin und ich mich fürchtete, mir könnte ekeln. Allerdings war er so rein und nett, jung und bartlos, daß ich mich einigermaßen beruhigt fühlte, aber mit großer Spannung sah ich nichtsdestoweniger dem kommenden Tage entgegen.

Als daher Jenny früh an mein Abteil klopfte und mir eine hübsche Handarbeit als Geschenk überreichte, bat ich sie, mit Mama voraus in den Speisesaal zu gehen, da ich natürlich Ming Tse allein treffen wollte.Mama gab mir eine lange Goldkette, an die ich mein Firmungsgeschenk, eine Golduhr, hängte, und nachdem wir beide geweint hatten – ganz wie's sich schickt, wenn man vierundzwanzig Lenze hinter sich hat –, blieb ich allein in meinem Abteil.

Etwa fünf Minuten später klopfte es verstohlen an die Pforte, und auf mein »Herein!« erschien zögernder als gewöhnlich mein kleiner Chinese auf der Schwelle.

»Möge sich dieser Tag noch oft wiederholen!« sagte er, indem er ein sehr schönes Kettchen mit einem Anhänger um meinen Hals legte, und dabei berührten seine Lippen fast unmerklich meine Wange, gerade als fürchtete der Besitzer dieser Lippen sie an mir zu verbrennen.Er war auch gewiß dreimal so verlegen wie ich, blickte mich gar nicht mehr an, und obschon ich ihm warm dankte, wandte er sich mir nicht wieder zu, sondern faßte mich energisch bei den Schultern und schob mich vor sich dem Speisewagen zu.

Als wir vor der Türe des Wagens standen, hielt der kleine Chinese einen Augenblick inne und fragte mich:

»Bist du zufrieden, Käthe, daß ich dich geküßt habe? «

Und ich, die ich mich der Hoffnung hingab, daß hier wie in allen Dingen Uebung den Meister machen würde, entgegnete lächelnd:

»Sehr zufrieden und sehr froh, Li Bai!«

Damit betraten wir den Speisewagen, der eben mit voller Fahrt durch das wichtige Gouvernement von Orenburg dahinbrauste und in dem am appetitlich gedeckten Frühstückstisch Mama und Jenny saßen und ein Butterbrot nach dem anderen in den inneren Kräftebehälter hinabspazieren ließen.

Am Nebentische saßen zwei hagere Engländer, aber Jennys Augen und Mamas Beredsamkeit (Mama spricht auch mit Leuten, deren Sprache sie nicht mächtig ist, und macht aus drei Worten ausländischer Wortkenntnis mehr, als ich aus einem reichen Wortschatz von vielen tausend Wörtern) hatten das ihrige getan – man sprach herüber und hinüber, und die beiden Herren machten uns aufmerksam, daß wir eben an Mischkino vorbeifuhren, das die Waren von ganz Sibirien für die berühmte Irbitsche Messe erhält. Als wir später im Salonwagen saßen und an Kurgan vorbeisausten, wußten die Engländer zu erzählen, daß dieser Ort seinen Namen dem Umstande verdankt, daß in unmittelbarer Nähe der Stadt künstliche Erdaufschüttungen in Gestalt von Kurganen oder Hünengräbern liegen, die mit Wald und Gräben umgeben sind und um die sich viele Sagen spinnen, besonders um den einen, in welchem einst eine wunderschöne Königstochter gelegen haben soll und die, als die Tataren immer wieder ihren Grabhügel der unermeßlichen, darin vergrabenen Schätze willen plünderten, eines Nachts auf silbergeschmücktem Wagen, der von zwei milchweißen, feurigen Rossen gezogen wurde, aus dem Hügel herausfuhr und sich in den unergründlichen Tschuklomsee stürzte. Natürlich blickten wir alle interessiert auf die eigentümliche Stadt mit ihrer breiten, öden Hauptstraße, ihren kleinen, fast durchschnittlich ebenerdigen Häusern und den im Hintergrunde auftauchenden Hünengräbern. Ueberall lag schon Schnee, obschon wir kaum Mitte Oktober hatten, und die Aussicht auf all die öden Strecken vor uns bot wenig Fesselndes, bis wir auf der breiten Eisenbrücke den mächtigen Tobol überschritten, an dem so viele Nomadenstämme sich niederließen und der eine so wichtige Rolle für diese Leute spielte.

Ich fühlte eine Hand auf meinem Arm.Li Bai stand neben mir und sagte gelangweilt:

»Komm mit mir, Käthe, wir gehen durch den Zug.«

Kaum waren wir in Bewegung, als er mir sagte:

»Diese Fremden sind ganz überflüssig, sie sollen mit Mama und Jenny sprechen.Für dich haben sie kein Interesse, nicht wahr?« fragte er mich und kniff die Augen gewaltig zusammen.

»Gar kein Interesse, aber sie kennen die Gegend gut. Hörst du nicht gern alles über ein Land, das man durchfährt? «

»Ja – a!« entgegnete er gedehnt.»Ist doch immer die alte Geschichte,« fügte er wegwerfend hinzu.Hierauf lehnte er sich ruhig zurück und erzählte mir allerlei Geschichten von China – von Vampiren, die ihren Feinden in der Nacht das Blut aussaugen, während sie am Tage meist die Gestalt eines schönen Mädchens haben; von Räubern, die sich in ein reiches Haus einschlichen und die Tochter des Hauses überfielen, worauf sie verschwanden, aber ihren Namen – oft einen sehr gefürchteten – zurückließen; von Dämonen, die sich in die Häuser einschlichen und allerlei Unheil stifteten und Aehnliches.Er schien, obschon er unseren Aberglauben, unsere Märchen, ja selbst unseren Glauben verspottete und verlachte, von dem, was er erzählte, ganz durchdrungen zu sein.Daß er auch nicht ohne Aberglauben mit Bezug auf die alltäglichen Vorkommnisse war, zeigte sich am folgenden Tage.

Wir hatten Irkutsk passiert, wo wir den Zug endlich einmal verlassen und auf dem mit Buräten, Jakuten, Tungusen, Japanern, Chinesen und den gefürchteten Kosaken mit ihren feurigen Augen und ihren hohen Pelzmützen übervoll besetzten Bahnsteig auf und ab gehen konnten, und saßen gerade vor einigen russischen Nationalspeisen, als eine tote Fliege in der Suppe Li Bais sichtbar wurde. So etwas ist immer unangenehm und abscheuerregend – wer zweifelt daran? – aber mein Verlobter nahm es doch noch viel tragischer, als man dies erwarten konnte.

»Eine Fliege!Eine Fliege in der Suppe!« sagte er mit Grabesstimme.»Das bedeutet einen Todesfall in der Familie!«

All unsere Versicherungen, all unsere Bemühungen, ihm begreiflich zu machen, daß dies nur ein Aberglaube sei, war vergeblich, und für den Rest des Tages war Li Bai äußerst schlechter Laune und sehr niedergedrückt.

Der nächste Tag war etwas freundlicher.Es schneite nicht mehr, und Li Bai sah auch fröhlicher aus, obschon er ganz in Trauer gekleidet erschien – selbst mit schwarzer Krawatte und matten Manschettenknöpfen.

»Was ist geschehen?« fragte Mama, die sogleich an die Fliegenprophezeiung dachte.

»Vor sieben Jahren starb mein Großvater an diesem Tage, und daher ist es notwendig, daß ich für heute Trauer anlege.«

Der chinesischen Sitte gemäß legt man an den Sterbetagen der Mutter und der männlichen Verwandten stets Trauer an (für die übrigen Frauen wird jedoch nicht Trauer getragen), selbst wenn schon über zwanzig Jahre seit dem Tode des Betreffenden verstrichen sind. Mama fand dies rührend, aber ich konnte nicht umhin zu denken, daß es doch unangenehm sein dürfte, falls man sehr viele Verwandte zu betrauern hat, da man in diesem Falle aus dem Trauertragen kaum herauskommen kann.

Endlich gelangten wir zum See Baikal, von den einheimischen Russen das »Heilige Meer« genannt, der einer der größten Süßwasserseen der Welt und entschieden der gewaltigste der Alten Welt ist. Die Chinesen nennen diesen See »Pei-ho« oder »Nordmeer«, die Mongolen geben ihm den Namen »Dalai-Nor«, was »Heiliges Meer« bedeutet, oder auch »Baikul« oder »gesegnetes Meer«. Die den See umgebenden Höhenzüge verleihen ihm einen besonders malerischen und großartigen Charakter. Die Randgebirge bilden verschiedene Gestalten, um die die lebhafte Phantasie der Eingeborenen viele Sagen gesponnen hat. Jede der zahlreichen Landzungen hat einen eigenen Namen und die Inseln werden von den lamaïtischen Priestern und auch von den burjatischen Schamanen als die Aufenthaltsorte des Gottes der Unterwelt Begdosi angesehen. Rund um den riesigen See gibt es eine Anzahl geweihter Stätten, an denen bald dem Gotte der Weisheit, bald dem Seegotte Dianda, bald anderen Göttern geopfert wird, damit diese Götter keine Menschenopfer verlangen sollen, wohl aber geneigt werden, den Fischern viele Fische an den Strand und in die Netze zu treiben. Die Farbe des Sees ist hell und die Fluten leuchten dem Beschauer auffallend durchsichtig entgegen. Als wir ihn passierten, war er schon teilweise zugefroren, im Juni und Juli aber soll an den sonst so stürmischen Gestaden eine so wunderbare Windstille herrschen, daß das Wachsen einer Anzahl merkwürdiger Wasserpflanzen sehr begünstigt wird und die die Fluten bald grünlich, bald rötlich erscheinen lassen, weshalb man diese Zeit »die Blütezeit des Baikals« nennt.

Li Bai war schon in höchster Aufregung, denn wir näherten uns der chinesischen Grenze.Nur noch wenige Tage und ich hatte meine neue Heimat erreicht.Jenny war sehr gespannt auf die neuen Eindrücke und Mama sah dem himmlischen Reiche mit einigem Mißtrauen entgegen.Ich glaube, sie wäre am liebsten gleich wieder zurückgefahren.

Seit jenem Kusse an meinem Geburtstage, der mich mehr an die Liebkosung einer Freundin als an den ersten Kuß eines Verlobten erinnerte, waren wir in unser früheres freundschaftliches Verhältnis zurückgefallen, und ich fragte mich, ob er auch als Gatte so fremd und kalt bleiben würde.

Kosenamen gebrauchte er nie, und nur das englische »dear«, was seiner Kürze wegen sehr gut einen Namen ersetzen konnte, schlich sich in unsere Rede ein. Er war sehr höflich, erriet unsere Wünsche bezüglich allgemeiner Bequemlichkeiten, machte Jenny einen zuvorkommenden Schwager und Mama einen höflichen aber unverständlichen Schwiegersohn, der zu allem »ja« sagte und alles »nein« tat, was ein gewisses diplomatisches Talent verriet. Die Abwechslung der Reise hatte wohltuend auf mein aus dem Gleichgewicht gebrachtes Gemüt und auf meine erschütterten Nerven gewirkt, und ich war infolgedessen heiterer geworden, wozu die komischen, oft treffenden Bemerkungen meines kleinen Chinesen sehr beitrugen. Eigentlich sagte mir Jenny oft, daß ich kein Recht hätte, ihn »den kleinen Chinesen« zu nennen, da ich nicht um ein Haar größer und schwerlich mehr wie zwei Zentimeter breiter als er war. Aber er erschien mir nicht nur körperlich, sondern auch seelisch – weniger klein, als vielmehr jung – und doch war er es nicht, wie ich mich später überzeugte. Ich konnte deshalb nicht umhin, ihn immer als »meinen kleinen Chinesen« zu betrachten, wie wenig Recht mir meine eigene Größe oder der Mangel einer solchen auch dazu gaben. Daß er so klein war, so zart aussah, war mir ein Trost!

Früh am folgenden Morgen kamen wir zum Dorfe Nagodan – der chinesischen Grenze. Die Kosaken verschwanden und eine Anzahl Chinesen mit kaftanähnlichen Kleidern und großen, in der Mitte spitz zulaufenden Hüten nahmen ihre Plätze ein. Hier war Zollinspektion, und ein verzweiflungsvolles Anklammern an sein Hab und Gut. Li Bai hatte uns gewarnt, die Träger auch nur einen einzigen Augenblick aus den Augen zu verlieren, da sie gleich mit den Koffern auf Nimmerwiederkehr verschwinden würden. Li Bai sprach, erklärte, schimpfte und bewachte, und es gelang uns mit vereinten Kräften einen Diebstahl zu verhindern, obschon es keine Kleinigkeit war, allen den zudringlichen, schmutzigen Chinesen zu wehren, die um jeden Preis ihre gelben Pfoten in die Tiefen unserer Koffer stecken wollten, und die mit affenartiger Geschwindigkeit bald einen Gegenstand, bald den andern ergriffen, um ihn in die weichen Falten ihres wallenden Gewandes verschwinden zu machen. Dazu schrien sie ununterbrochen und gestikulierten mit Händen und Füßen, daß mir ganz schwindlig im Kopf wurde und ich froh war, als die schreckliche Inspektion vorüber und wir wieder im Zuge waren.

Hier begann die chinesische Küche. Wir speisten zum erstenmal auf chinesische Art und Weise in Mukden, wo man uns zuerst grünen Tee ohne Zucker oder Milch in den kleinen, mit allerlei Zeichen und chinesischen Figuren überstreuten, henkellosen Tassen servierte. Ihm folgte eine Riesenschüssel Reis, der blendend weiß und ganz trocken war – er ersetzt in China unser Brot –, und kleingeschnittenes Fleisch mit einer Art Seegras, das mir gut schmeckte und mich unterhielt, da es beim Essen ein Heidengeräusch machte. Man hätte glauben können, daß ich zum mindesten die allerstärksten Hühnerknochen mit einem wahren Löwengebiß zerdrückte, so riesig war der Lärm, den die Zerkleinerung dieses Gemüses hervorrief. Wir mußten uns zum erstenmal der chinesischen Eßstäbchen bedienen. Das war eine schwere Aufgabe. Li Bai hielt die feinen Stäbchen geschickt zwischen Zeige- und Mittelfinger und fischte aus dem Schälchen (denn wir aßen nicht von Tellern) sehr gewandt die Fleischstückchen, die er in die kleine Saucenschüssel, die bei jedem Besteck lag, tauchte und zum Munde führte. Mama, Jenny und ich aber, wir waren verloren. Li Bai warf in jede unserer Schalen mit dem entgegengesetzten Ende seiner Stäbchen alle erhaschbaren Leckerbissen, aber umsonst. Wenn wir sie endlich aufgefaßt hatten, ließ gewiß eine unvorsichtige Handbewegung die mühsam aufgeladene Beute ins Wanken kommen und manchmal flog sie mit der Sicherheit eines wohlgezielten Pfeils in das Gesicht oder auf die Bluse eines Mitspeisenden, und als endlich ein reichlich in die pikante schwarze Sauce getauchtes Stück Huhn auf diese ungewollte Weise Li Bai »platsch« gegen die tadellose Krawatte geflogen war, warf er einen Blick gegen den Himmel, als ob er die unsichtbaren Mächte einladen wollte, solche Ungeschicklichkeit näher in Augenschein zu nehmen, schüttelte das Haupt, als ob so etwas noch nie vorgekommen wäre, und öffnete dann seinen Koffer, dem er schweigend drei Löffel entnahm, die er uns mit unbeschreiblichen Gesichtsausdruck überreichte. Dann knüpfte er sich eine frische Krawatte um und setzte seine Mahlzeit fort, durchdrungen von dem erhebenden Bewußtsein, daß er unserer Schießlust Einhalt geboten hatte, indem er uns die gefährlichen Stäbchen gegen Löffel ausgetauscht. Den Schluß der merkwürdigen Mahlzeit bildete ein Litschikompott, das ausgezeichnet schmeckte. Die Früchte erinnern an unsere Pfirsiche, nur sind sie glatthäutig und viel kleiner. Der Geschmack ist sehr fein und die Frucht erquickt ganz unbeschreiblich. Tschau-tschau dagegen war mir zu süß, – er war noch süßer als unsere kandierten Früchte, übermäßig verzuckert und klebrig.

Wir stiegen spät am Abend in Peking aus.Li Bai führte uns in das europäische Hotel unweit der deutschen Gesandtschaft und nahm dann Abschied von uns.Wir sollten noch zwei Tage in der Hauptstadt Chinas bleiben, er aber fuhr voraus nach Tientsin, um seine Eltern zu begrüßen und den chinesischen Zauberer noch einmal zu befragen, wann der günstigste Trauungstag für uns sein würde.Daher nahm er auch alle meine Geburtsdaten mit, denn nach chinesischem Glauben spielt das Horoskop eines Menschen eine sehr wichtige Rolle.Viele Chinesen, die lange in Europa gewesen sind, haben mit diesem Humbug lange gebrochen, aber Li Bai war in seinem ganzen Wesen Chinese – unveränderlich Chinese – und ich viel zu nachsichtig in meinem Denken, als daß ich mich diesen seinen Wünschen irgendwie widersetzt hätte.Er konnte soviel es ihm beliebte an chinesischen Sitten und Gebräuchen festhalten, wenn er mich nur recht liebhaben wollte und mich stets höflich und gut behandelte.

Als wir uns zum Abschied die Hand reichten, flüsterte ich ihm zu:

»Li Bai, ich fürchte mich ein wenig vor deinem Vater! «

»Unsinn!« entgegnete er.»Mein Vater wird dir nicht den Kopf abreißen, er hat Europäerinnen gern und ist froh, daß du so viele Sprachen sprichst.«

Diese Versicherung beruhigte mich ein wenig, doch nicht ganz.Wie würde ich mich je in diese Verhältnisse finden?Ein heißes, drückendes Angstgefühl stieg bei diesem Gedanken in mir auf, aber mit Aufgebot meiner ganzen Willenskraft drängte ich es zurück.Warum jetzt zittern, wo alles entschieden ist?Alle Menschen sind gleich, und gewiß kann es viele gute Menschen unter gelbem Aeußern geben, ebenso viele vielleicht als unter weißem oder braunem.

Ich hatte einem alten Herrn geschrieben, den ich einmal in Paris kennengelernt hatte und der nun, wie ich wußte, schon seit vielen Jahren zwischen Europa und Asien hin und her reiste, seinen eigentlichen Stammsitz geschäftshalber jedoch in Peking hatte.Früh am folgenden Morgen kam Herr Frise, um uns die Stadt mit allen ihren Sehenswürdigkeiten zu zeigen.

Er geleitete uns zuerst in die echt chinesische Stadt, wo wir in alte Porzellanfabriken und Geschäfte gingen, wo wir die herrlichen Schüsseln, Kannen, Vasen und Tassen bewundern konnten, die alle als Merkzeichen ihrer chinesischen Erzeugung den Drachen aufwiesen. Die Chinesen lieben es, solche echte Vasen oder Schüsseln zu sammeln und als Familiengut aufzubewahren, denn dieses Porzellan bedeutet ein ganzes Vermögen, etwa wie unsere Bücher vor der Erfindung der Buchdruckerkunst.

Die Straßen von »Shung-tien-fu«, oder wie die Chinesen die Stadt noch öfter nennen, nämlich »Peh-Djing«, d. h. nördliche Hauptstadt, sind entsetzlich. Sie sind weder geschottert noch gepflastert und der durch viele Hunderte von Jahren unablässig über sie hinwegrollende Verkehr hat den schrecklichen Sandboden in einen Hohlweg verwandelt, in dem man im Sommer vor Staub fast ersticken soll und in welchem man jetzt zur Winterszeit im Kot fast stecken blieb. Die kleinen echt chinesischen Wagen, die nach Aussage unseres Begleiters heute noch ebenso wie vor vielen hundert Jahren aussahen und die dem alten Weisen Konfuzius gewiß nicht um ein Haar verändert erscheinen würden, falls er plötzlich auferstehen und in den Gassen auf und ab gehen würde, halten sich noch heutzutage streng an die Achsenlänge, die wahrscheinlich unter Lao Tse in Kraft getreten war. Die Beförderung in einem solchen Vehikel läßt Herz, Lunge und Leber dergestalt gegeneinander fliegen, daß nur ein Orientale mit seiner Unempfindlichkeit gegen physische und moralische Schmerzen so eine Fahrt auf die Dauer aushalten kann. Daher tritt die japanische Jinriksha immer mehr in Kraft, aber auch da gehört eine gewisse Geschicklichkeit dazu, in diesen zweirädrigen Wägelchen nicht das Gleichgewicht zu verlieren und unsanft in den Straßenschlamm geschleudert zu werden. Trotzdem wird dieses fremdartige Verkehrsmittel besonders in Shanghai und Hongkong sehr viel verwendet.

Die reichen Chinesinnen wanken nicht auf ihren verkrüppelten Füßen (was Gott sei Lob ein Ende nimmt) durch die elenden Gassen, sondern werden in Sänften getragen, und nur die armen Chinesinnen müssen versuchen, ihr Gleichgewicht zu erhalten.Wie man uns sagte, soll der liebende Gatte seine Frau nie auf den Mund, sondern immer nur auf diese »goldenen Lilien« küssen, die aber nie ganz bloßgelassen werden, da der Fuß nur eine formlose, abstoßende Masse ist.

Von allen Häusern und besonders den Auslagefenstern hingen allerlei bunte Papierstreifen mit chinesischen Zeichen versehen herab, überall sah man heftig sprechende Chinesen in eifrigem Handel begriffen.Trafen sich zwei Bekannte, so reichten sie sich nie die Hand.Es schüttelte nur jeder seine eigene Hand und legte, wenn er besonders liebenswürdig sein wollte, beide Hände gekreuzt über die Brust, in dem er den Körper leicht nach vorn beugte.

Wir gingen auch zum Gesandten, um alle Einzelheiten der Eheschließung zu bestimmen, und ich muß sagen, daß der alte Herr sehr liebenswürdig war und nichts unversucht ließ, um eine Verbindung zu vereiteln. Wäre meine Existenz nicht so traurig gewesen, so hätte ich möglicherweise seinen Vorstellungen nachgegeben. So aber war ich bereit, mich in die unbekannten Gefahren zu stürzen, in der Hoffnung, dort der Einsamkeit zu entgehen, in der trügerischen Voraussetzung wohl auch, daß es mir gelingen werde, die Liebe meines Gatten zu erringen oder seine chinesischen Gefühle für mich in irgendeine europäische Münze gleich hohen Wertes zu verwandeln. Noch zweifelte ich nicht ernstlich daran, daß mein unausgesetzter Einfluß günstige Folgen haben und mir den endlichen Sieg sichern würde. Er mußte doch wie andere Leute eine Seele haben – die Frage war nur, wie konnte ich die Perlen, die am Grunde seines Seins schlummerten, auf die Oberfläche fördern. Mama, die über die Warnungen des Gesandten nicht entzückt war, fürchtete sich ihrerseits viel zu sehr vor dem Gerede der Leute, als daß sie gewünscht hätte, mich vor der Ehe zu retten, und nur Jenny schlang weinend ihre Arme um meinen Hals und sagte, daß sie selber nie einen Chinesen heiraten könnte, auch nicht, wenn er so höflich wie Li Bai wäre, und damit war die Angelegenheit erledigt.

Wir wanderten auf der Stadtmauer umher, besuchten einige Tempel, die berühmten Tore der Stadt usw., und nach Ablauf von zwei Tagen saßen wir wieder im Zug, der uns nach Tientsin, der bedeutendsten Stadt des Nordens, bringen sollte.

Mama war von all den neuen Eindrücken in einen unruhigen Schlummer verfallen. Jenny und ich blickten auf die uninteressante Ebene hinaus, durch die sich der Pe-ho-Fluß träge schlängelt, und die er oft, wenn seine Wasser durch jähe Regengüsse anschwellen, furchtbar überschwemmt.

Plötzlich sah ich über Jennys blasses Gesichtchen zwei Tränen rollen.Ich zog mein Schwesterchen an mich und fragte sie, was ihr diese Tränen entlockt habe.

»Ni–chts!« entgegnete sie langsam und schmiegte sich eng an mich.»Ich – ich möchte nur so gern wissen, ob – ob – du glücklich sein wirst?« schluchzte sie sodann.

»Jennychen,« sagte ich weich, »das Glück ist ein individueller Begriff, und vielleicht habe ich es nicht in mir, so himmelanstürmend glücklich zu sein.Ich prüfe immer, ich ahne immer mehr hinter den Worten, als sie wirklich ausdrücken, möglicherweise auszudrücken bestimmt sind, aber ich habe ja selbst diese Ehe gewollt und –«, ich zwang mich, meiner Stimme einen heiteren Klang zu geben, »du weißt, daß des Menschen Wille sein Himmelreich ist.«

Eine Weile saßen wir schweigend da und hielten uns fest umschlungen.Ach, wenn ich meine Schwester immer, immer so nahe gehabt hätte!

»Möchtest du nicht einige Monate bei mir bleiben? « fragte ich. »Im Februar geht der Gesandte nach Europa zurück, und er versprach mir, dich mitzunehmen, falls Mama nun allein reisen würde. Nein, nicht allein,« fügte ich hinzu, als ich Jennys Zögern sah, »sondern mit Herrn Frise, der in fünf Wochen wieder nach Europa in geschäftlicher Angelegenheit reist. «

»Würde mein Bleiben dir ein Trost sein, Käthe?Du bist ja jung verheiratet dann und in den Flitterwochen.«

»Ja,« erwiderte ich gepreßt.»Weißt du, Jenny, chinesische Flitterwochen dürften nicht so – süß sein, daß – – daß deine Gegenwart störend wirken würde – – aber Jenny, zieht dich vielleicht der Doktor?Wenn, so will ich dich nicht halten, dein Glück geht allem voran.«

»Jenny wird bei dir bleiben,« sagte sie und sprach von sich wie ein kleines Kind in der dritten Person, indem sie ihr blondes Köpfchen an meine Schulter legte.»Der Doktor,« fuhr sie zögernd fort, »hat meine Haarlocke.«

Wir lachten beide, da wir beide uns augenblicklich bewußt waren, daß der arme Doktor nur wenig Trost aus einer Locke, und sei sie noch so schön, ziehen würde. Ich aber sehnte mich so sehr, wenigstens während der ersten Zeit jemanden aus meiner Heimat bei mir zu haben, daß ich Jenny nicht gern hätte reisen lassen. Auch dachte ich mir, daß es dem Kinde nicht schaden würde, etwas mehr von der Welt zu sehen, bevor sie sich für immer an den Doktor band, zu dem sie wie eine niedrige Sklavin zu ihrem Herrn und Gebieter aufschaute, was mir, die ich die Männer kannte, nicht gefiel. Die besten von ihnen sind herzlose Egoisten, die schlechtesten – least said, soonest mended!

Endlich hielt der Zug in Tientsin, dem Hafen Pekings, der berühmten Manufakturstadt, die wie ein Marmeladefleck auf einem riesigen Pfannkuchen dalag. Li Bai war da, um uns zu begrüßen und uns in das Haus eines Chinesen zu bringen, wo wir wohnen sollten, bis wir in das Haus des Mandarins übersiedelten, der stets über eine Anzahl Fremdenzimmer verfügte. Bis zur Trauung sollten wir indessen in dem genannten Hause bleiben.

Kaum hatten wir uns gewaschen und uns von der zweistündigen Fahrt etwas erholt, so kleideten wir uns in unsere besten europäischen Toiletten und bereiteten uns vor, dem gefürchteten Mandarin in seinem Bankkontor unsere Aufwartung zu machen. Li Bai, ebenfalls in tadelloser europäischer Kleidung, begleitete uns durch die Straßen Tientsins, das so gar nicht den Eindruck einer chinesischen Stadt machte. Da fuhren elektrische Wagen auf und ab, Telegraphendrähte spannten sich von einen Stange zur andern, die Häuser, in diesem Teile wenigstens, waren nach europäischem Muster gebaut und wiesen alle mehrere Stockwerke auf. Wir passierten den großen deutschen Klub, den wir am folgenden Tage besuchten, und wo man ausgezeichnetes Bier und unsere Würstel, die geliebten Würstel erhalten kann. Große Gärten, die jetzt allerdings öde dalagen, erstreckten sich vor vielen Bauten und alles machte einen freundlichen Eindruck, ganz anders als das schmutzige Peking, wenn auch hier die Reinlichkeit noch nicht ihren Höhepunkt erreicht hatte.

Wir durchkreuzten einige kleine Gassen, die sogleich das chinesische Gepräge trugen, sowohl was Reinlichkeit als auch Bauart und Geruch anbelangt.Aus manchen ebenerdigen Fenstern hingen Kinder.Man hatte ihnen eine Art Gängelband unter die Arme befestigt, so daß sie nun frei heraushingen, vieles sehen und sich nicht wehtun konnten.Nach unseren Ideen muß so ein aus dem Fensterhängen nicht sehr angenehm sein, aber Li Bai versicherte mir, daß alle ärmeren Chinesinnen ihre Kinder so vor dem Ueberfahrenwerden bewahrten, da sie nicht Zeit hatten, auf die Kleinen unausgesetzt achtzugeben.Das erinnerte mich an Japan, wo man den Kindern, wie bei uns den Hunden, ein Halsband mit Namen und Adresse umgibt, so daß das verlorene Kind früher oder später, tot oder lebendig, an den Besitzer zurückgelangt.

Wieder in eine breitere Gasse einbiegend und uns, so gut es ging, vor dem schaurigen Nordostwind schützend, indem wir uns immer fester in unsere Mäntel und Pelze hüllten, standen wir endlich vor einem Gebäude, auf dem auf englisch: »United Oriental and Tientsin Bank« mit großen Buchstaben geschrieben stand.Li Bai öffnete die Tür und ließ uns eintreten.Die Schwelle zum gefürchteten Mandarin, dem Bankdirektor und zukünftigen Schwiegervater, war überschritten.


A.   F.   Seebacher  

XII.

Jeg har drevet omkring uden Maal, uden Med,
Livets Guldkorn jeg spredte som Sand,
Jeg har tilsat min Tro, jeg har mistet min Fred,
Og nu staar jeg ved Afgrundens Rand.
Vilhelm Bergsöe.

XII.

Ein chinesischer Schreiber machte eine tiefe Verbeugung vor Mama und eine weniger tiefe vor Jenny und mir, öffnete eine kleine Tür im Hintergrund, meldete uns auf chinesisch und trat dann zurück, um uns in das Allerheiligste eintreten zu lassen.Ich merkte, daß Jenny ganz blaß wurde und ich muß einräumen, daß mein Herz mir gleichfalls in die Schuhe sank – auch aus meinem Gesicht schien alle Farbe gewichen zu sein und am liebsten wäre ich auf den Boden gesunken.

Uns entgegen trat ein hoher, breitschulteriger Chinese in kaftanähnlicher Kleidung und mit allen äußeren Abzeichen eines hochstehenden Mandarins – die gestickte Seidenkleidung, die breite Schärpe, die funkelnden blauen Knöpfe – und bot Mama auf europäische Weise die Hand, indem er sie gleichzeitig aufforderte, Platz zu nehmen.Jenny verbeugte sich tief und trat augenblicklich zurück, um mich vorzulassen.

Li Bai legte seine zarte Hand auf meinen Arm und sagte seinem Vater in seiner Sprache, wer und was die kleine Mädchengestalt vor ihm war, während ich wie ein altes Taschenmesser zusammenknickte und bei meiner Verbeugung, teils aus Ehrfurcht, teils aus Furcht, mit meinem Gesichtsvorsprung beinahe die Erde abwischte.

Als ich wieder auftauchte, das heißt, nach der tiefen Verbeugung meine verwunderten Augen zum erstenmal zum großen Mandarin aufschlug, von dem ich die unbestimmte Meinung hatte, daß er mir sofort den Kopf abschneiden lassen könnte, wenn er es nur wollte, bemerkte ich, daß der Schatten eines Lächelns über sein Gesicht huschte.

Er reichte mir ebenfalls die Hand zum Gruße, was ich eigentlich gar nicht erwartet hatte, und während ich zum zweitenmal eine mißglückte Art von Kotau oder chinesischer Festverbeugung machte, sagte der Mandarin in einer über Erwarten angenehmen Stimme, wenn er auch nur sehr langsam und vorsichtig englisch sprach (denn deutsch sprach er gar nicht):

»Das also ist die Braut meines Sohnes Li Bai, seine vorherige Lehrerin?«

Ich bejahte und verbeugte mich heldenmütig zum drittenmal, worauf der Mandarin mich selbst zu einem Stuhl geleitete und mich mit einer Handbewegung einlud, mich zu setzen, was ich mit meinen zitternden Beinen nur allzu gern tat.

»Wollen Sie meinem Sohn auch weiter helfen, damit er nach, sagen wir Jahresfrist, nach Europa zurückkehren und die höheren Prüfungen machen kann?«

»Ich werde stets mein Bestes tun,« versicherte ich, und dann nahm ich meinen gesamten Mut in beide Hände, denn ich sagte mir mit Recht, daß ich mir meine Stellung jetzt sichern mußte, wenn dies überhaupt je geschehen sollte, und sagte mit der weichsten Stimme und im bescheidensten Tone, den ich hervorbringen konnte, aber nichtsdestoweniger mit einer gewissen Festigkeit in beiden:

»Ich spreche und schreibe viele europäische Sprachen, Herr Ming Tse, und ich würde sehr glücklich sein, wenn ich während einiger Tagesstunden in der Bank als Korrespondent arbeiten dürfte.In London schon hatte ich viel Uebung in dieser Art Arbeit und ich hoffe mit der Zeit auch Sie, Herr Bankdirektor, zufriedenzustellen.«

Die strengen Augen in dem regungs- und ausdruckslosen Gesichte waren scharf und unbewegt auf mich gerichtet, wenn sie auch, ganz wie beim Sohne, von den Lidern halb verborgen waren.

»Schon der Unterricht Li Bais wird viel Zeit in Anspruch nehmen,« erwiderte der Mandarin, aber da ich ihn unverwandt bittend ansah, fügte er hinzu:

»Ich freue mich, zu sehen, daß Sie über ein so reiches Wissen verfügen und werde mich dessen erinnern, sooft ich Ihrer freundlichen Hilfe bedürfen werde.«

Es war nicht viel, was ich erreicht hatte, aber etwas war doch geschehen. Li Bai war sehr unzufrieden, und schon als sein Vater von einer möglichen Rückkehr nach Europa, mehr noch, als er von den Studien sprach (er wollte um jeden Preis, daß Li Bai das Doktorat in moderner Philologie abgelegt hätte), war meines Verlobten Gesicht so lang wie eine Essiggurke und so sauer, wie eine solche geworden, und als ich nun geendigt hatte, begann er dem Vater auf chinesisch etwas vorzureden, jedenfalls eine Weigerung, mich ausgehen zu lassen. Aber der Mandarin war nicht umsonst Mandarin und Vater mit unumschränkter Macht – er befahl ihm, so schloß ich nämlich aus den strengen Mienen des einen und den unzufriedenen des anderen – energisch still zu sein und setzte sich sodann Mama gegenüber, mit der er die Uebergabe der Dokumente und andere Formalitäten besprach, was lange Zeit dauerte.

Bei chinesischen Heiraten werden alle Einzelheiten immer durch einen Zwischenträger ausgemacht, die nötigen Geschenke werden bestimmt und eine bessere Art Kaufvertrag wird aufgesetzt, während der Zauberer den passenden Tag bestimmt. Ist dieser Vertrag einmal abgeschlossen, so ist eine Lösung der Verlobung nicht mehr möglich – es muß erst geheiratet werden, bevor eine Scheidung in Kraft treten kann, daher bricht man einen solchen Kontrakt nie. Hier lagen die Verhältnisse allerdings anders, aber nach den neuen Gesetzen mußte ein genauer Vertrag aufgesetzt werden, den beide Elternpaare unterschreiben mußten und in dem nicht nur das Vermögen beider Teile festgesetzt wurde, sondern auch bestimmt, was für Strafen für dieses oder jenes Vergehen des einen oder des anderen Teils bestimmt werden sollen – auch Bestimmungen mit Bezug auf das Vermögen im Falle einer Scheidung, Teilung der Kinder usw. und auch, wie oft mein künftiger Gatte mir gestatten mußte, heim nach Europa zu reisen und die Fahrt zu zahlen und auch, auf wie lange Zeit ich ihn verlassen durfte, ob und wie viele Kinder ich mitnehmen sollte und vieles andere. Alle drei Jahre sollte ich drei Monate lang bei meiner Mutter oder Schwester in Europa weilen dürfen, das wurde bestimmt. Die anderen Punkte überließ ich ganz Mama zu bestimmen, da wir alles schon vorher gründlich erörtert hatten.

Als der Tag zur Ueberreichung und Unterschreibung des Dokuments vor dem chinesischen Magistrat (auch eigentlich eines Mandarins) und der Eheschließung am gleichen Tage vor dem deutschen Konsulat bestimmt worden war, trat der Mandarin noch einmal vor mich hin und sagte langsam und feierlich:

»Mein Sohn ist Chinese und seine Mutter wie auch er selbst würde gerne, daß die Trauung, wenngleich mit einer Europäerin, doch nach chinesischer Sitte gefeiert werden möge.Wollen Sie sich darin den Sitten unseres Landes fügen?« Die Frage war leidenschaftslos gestellt, aber schien mehr einen Befehl als eine Bitte zu enthalten.

Ich stimmte sofort zu. Warum sollte ich mich weigern, Li Bai und meiner zukünftigen Schwiegermutter diesen Gefallen zu tun? Mein Herz klopfte nicht wonnig beglückt, wie das einer europäischen Braut, die im weißen Gewande und mit Myrthenkranz und Schleier in eine frohe Zukunft blickt – ich hoffte nur Friede, nur ein wenig Freude und Rettung vor der schreckvollen, graueneinflößenden Einsamkeit. Ich würde mein Bestes tun, mich ganz wie eine Chinesin an diesem Tage zu benehmen, ob ich mich wohl dabei fühlte oder nicht. Dies würde Li Bai gewiß mild stimmen und ihn vielleicht zärtlich gegen mich machen, und danach fühlte ich plötzlich einen brennenden Wunsch. Wenn mich in allen diesen Zweifeln und Bangen doch jemand, der mich selbstlos oder meinetwegen selbst selbstsüchtig liebte, in die Arme genommen hätte! Ich kam mir so furchtbar verlassen und schutzbedürftig vor.

Es war zuerst – als ich noch in Europa war – festgesetzt worden, daß Li Bai und ich einen Haushalt nach europäischem Muster haben und nicht mit der ganzen Familie zusammen wohnen würden, aber nun sagte mir der Mandarin, daß es so furchtbar schwer gewesen sei, eine passende Wohnung zu finden, daß er es für ratsam halte, mich zu bitten, auch eines der für die verheirateten Söhne bestimmten Häuschen zu beziehen, da ich mich weder um die Küche noch um sonst etwas zu kümmern haben würde – alles würde für mich gemacht werden.

Ich war betroffen, da ich mich immer geweigert hatte, unter demselben Dache – und sei es noch so groß – wie meine gelbe Schwiegermutter zu wohnen, aber nachdem mich Li Bai mit Bitten bestürmte und mir versicherte, daß wir ganz abgesondert leben würden, ganz genau wie draußen, und daß er so gern bei seiner Mutter bliebe, daß es sich ja nur um die Wintermonate handle und wir im Sommer gewiß eine eigene Wohnung haben würden und bald wieder nach Europa gingen usw. , wie eben ein Mann, der etwas erreichen will, reden und überreden kann, so sagte ich endlich, wenn auch gegen meinen Willen und gegen meine innere Ueberzeugung »ja und Amen«, das Einzige, was mir zu sagen übrig blieb.

Daraufhin bat ich den gestrengen Schwiegervater noch einmal höflich, meine Sprachkenntnisse nicht zu vergessen und über mich zu verfügen, tauchte noch einmal ehrfurchtsvoll unter, um nicht europäisch unhöflich zu erscheinen, und als dies geschehen, gingen wir.Ohne es zu wissen, hatte ich mir den schwer einzunehmenden Mandarin zum Freunde gemacht.Es sollte eine Zeit kommen, wo ich dies sehr, sehr angenehm empfinden würde.

Meine Schwiegermutter sollte ich erst am Tage der Eheschließung kennenlernen, nur mein Bild und die Beschreibung des Mandarins gaben ihr einen schwachen Begriff von dem Geschöpf, das nun ihren Sohn beeinflussen würde, denn fürchtete ich den Einfluß der Schwiegermama – des gefürchtetsten aller Tiger – so war auch sie nicht ohne Furcht vor der verhaßten Europäerin.

Wie die nächsten zwei Wochen vergingen, kann ich kaum sagen. Mir schien es, als sei alles nur ein böser Traum, aus dem ich erwachen mußte, sei es, um mich in liebenden Armen weich beschützt zu finden, sei es, um mich von schlitzäugigen Furien verfolgt zu sehen – eins nur fühlte ich, daß ich vor der Pforte stand, die in ein neues Reich führte, und daß die Pforte merkwürdig verschnörkelt und sehr fremdartig war.

Wir wanderten die ganze Zeit in den Gassen von Tientsin umher. Mama und Jenny machten allerlei Einkäufe, wobei uns erfahrene Europäer sehr liebenswürdig an die Hand gingen. Wir besuchten den großen Park, der nun öde im Winterkleid vor uns lag, besuchten die großen Warenhäuser, zu denen riesige Fahrzeuge während acht Monaten des Jahres Waren von ganz China und von vielen anderen Erdteilen brachten, studierten die orientalische Kunst in Tempeln mit schrecklichen Götzenbildern (es ist eigentümlich, welche Vorliebe die Asiaten für graueneinflößende Gebilde haben, denen man überall begegnet), in Kunstgeschäften und in den Häusern solcher Europäer, die wir kannten und die große Sammlungen solcher Bilder hatten. Eigentümlich ist bei allen Bildern der Mangel jedweden Schattens und jedweder Perspektive. Ein Mann ist größer als das unmittelbar danebenstehende Haus, ein Baum ist kleiner als ein Pferd, und alle Personen, Tiere und Sachen haben, wie einst Peter Schlehmil, ihren Schatten verkauft – oder so scheint es. Einzig in ihrer Art sind die Porzellanmalereien, bei denen man diesen Mangel nicht fühlt. Die Farben sind großartig gewählt und die Feinheit der Arbeit unnachahmlich, besonders schön aber sind alle Elfenbeinschnitzereien und Papierrollen mit chinesischen Zeichen.

Wir gingen auch in eine Seidenspinnerei.Die chinesischen Seidenraupen sind viel größer als die europäischen und werden auch in vielen Privathäusern gehalten und gezüchtet.Man spannt ein großes Stück Papier von der Form eines Tischtuches auf ein Brett und setzt sodann die Seidenraupen an beide Enden, die nun über das Papier hinkriechen und ihre dicken leuchtenden Fäden ziehen.Die chinesische Seide ist viel dicker, widerstandsfähiger und schöner als die europäische und wird dort, so wie bei uns Wollstoffe, für alle Kleider verwendet.Mama und Jenny waren entzückt davon und kauften eine ganze Menge Seidenstoffe ein, obschon ich ihnen sagte, daß sie furchtbar hohen Zoll dafür bezahlen würden.

Auch auf mich machte all das Neue und Schöne einen angenehmen Eindruck, aber ich war zu geschwächt, um mich wirklich dem Genuß alles dessen hingeben zu können. Auch hatte ich meine vorige Genußfähigkeit in hohem Grade eingebüßt – ich konnte nicht mehr so froh sein, als mir dies früher möglich gewesen. Wer einmal die Tore des Todes sich hat öffnen sehen – noch dazu aus eigenem Antriebe – wer sich ihnen bewußt Schritt auf Schritt genähert hat, wem sie dunkel und schaurig wochenlang entgegensahen, dem scheint der Rest des Lebens ein Geschenk, er lebt nicht mehr als Schauspieler auf der Bühne des Lebens, wo alles entweder Tragödie oder Komödie, doch in den meisten Fällen Tragikomödie ist, sondern nur mehr als Zuschauer, für den das Leben noch Interesse, aber nicht mehr das tätige Interesse hat. Er bleibt – weil er nicht gehen kann, aber im Innern ist eine Saite jäh zerrissen.

Ich hatte einsehen gelernt, daß der Begriff »Zeit« eine Illusion ist, daß eine Qual nur deshalb so unerträglich scheint, weil wir in unserer Beschränktheit nicht ihr Ende sehen können, weil sie uns »ewig« dünkt und wir glauben, daß wir »nie« über sie hinwegkommen werden.Aber wenn wir gelernt haben, daß es nur gilt, dem »Heute« aus dem Wege zu gehen, gut oder schlecht durch die Gegenwart zu gleiten, so sind Zukunft und Vergangenheit besiegt.Wenn es uns nur gelingt, die augenblickliche Pein zu dämpfen oder ihr aus dem Wege zu gehen, so ist alles gewonnen.Morgen ist nicht mehr heute und was heute unabwendbar und unveränderlich erscheint, hat morgen schon eine Wendung der Umstände uns aus dem Wege geräumt.Die Schwierigkeit des Lebens liegt im Erträglichmachen und Umgehen des Heute.In diesen zwei Wochen lebte ich nicht – ich ließ das Leben an mir vorübergleiten und daher brachte es keine neuen Aufregungen mit sich.

Mama war sehr zufrieden – Chinese oder nicht Chinese – so war Li Bai doch ein reicher Mann, eine »Partie« wie man bei uns sagt, sein Vater Mandarin, Bankdirektor und einflußreich in Tientsin und über diese große Stadt hinaus. Was wäre da noch weiter zu bedenken? Ob ich glücklich sein werde? I, du Himmel, das hängt von mir ab, nicht von den Müttern. Daß ich so weit entfernt sein werde? Was tut's? Die Verwandten werden sich dennoch über meine Verheiratung ärgern und das genügt Mama. Jenny war zu jung, zu leichtsinnig, zu unerfahren, um sich über mein künftiges Schicksal den Kopf zu zerbrechen. Ich war mit dreizehn Jahren fühlendes, urteilendes Weib gewesen, meine Schwester würde mit vierundzwanzig möglicherweise auch noch »Kind« sein. Daher lachte Jenny den ganzen Tag und Mama sah überaus glücklich aus. Ich war ruhig – weder froh noch traurig – ich schwieg und ich – lebte.

Es ist beklagenswert, daß Mütter auch in Europa geradeso unempfindlich gegen das Geschick ihrer Kinder in einer Ehe sind, wie die phlegmatischen Asiaten, die auf ein Mädchen als unnütze Last herabsehen. Europäerinnen, die in den eleganten Salons und beim five o'clock-Tee die Hartherzigkeit der gelben »Barbaren« so streng verurteilen, gehen oft heim und tun desgleichen. Sie verhandeln ihr Kind an reiche Männer oder solche, die Titel und Würden aufweisen können und die sonst den Eindruck machen, als habe sie der Tod vergessen – alt, häßlich, lasterhaft, brummig und krank – und reden dem ahnungslosen jungen Dinge vor, daß es sich »die Hände oder wenigstens die Finger ablecken muß« eine so gute Partie gemacht zu haben. Sie zwingen mit Drohungen und Versprechen das junge Mädchen in eine solche Ehe und tun dann hocherstaunt, wenn dasselbe sich tief unglücklich fühlt. Sie sprechen unter Umständen noch von »schreiendem Undank«, wenn die junge Frau, die zu spät die volle Bedeutung des Begriffs »Ehe« kennengelernt hat, fühlt, daß die ihr auferzwungene Pflicht über ihre Kräfte geht, und das einzige Mittel ergreift, das ihr in der Regel offensteht, mit einem jüngeren Manne zu fliehen oder sich mindestens mit ihm neben dem reichen Gatten zu trösten, was die Mütter viel milder beurteilen als die Flucht. Bleibt das Geld auf diese Weise doch erhalten! Und das nennt man »europäische Kultur«.

Die Vorbereitungen hatten etwas über zwei Wochen Zeit in Anspruch genommen – das allermeiste war schon vorher schriftlich erledigt worden, und nun hatten Mama und der Mandarin täglich Konferenzen über die Ausstattung des künftigen Heims, das halb chinesisch, halb europäisch eingerichtet werden sollte, über die Mitgift und ihre Verwaltung, über die Hochzeitsfeierlichkeiten usw.

Der Zauberer hatte den dritten November als den passendsten Tag für unsere Verbindung festgesetzt, und alle hatten sich damit einverstanden erklärt. Morgen sollte ich von chinesischen Mädchen in chinesische Roben gesteckt und in den Brautsessel gehoben werden, der mich in feierlichem Umzug zum Hause meiner Schwiegereltern zu bringen bestimmt war. Die europäische Eheschließung sollte jedoch schon in den Vormittagsstunden in europäischer Tracht auf dem Konsulate vollzogen werden.

Ich sah Li Bai nur auf Augenblicke in allen diesen Tagen, da er bis über den Kopf in Hochzeitsvorbereitungen steckte.Trafen wir uns endlich, war er so höflich und so – zurückhaltend wie immer.

Und die Stunden verflossen und das gefürchtete »morgen« wurde »heute«.


A.  F.  Seebacher 

XIII.

Drum prüfe, wer sich ewig bindet,
Ob sich das Herz zum Herzen findet.
Schiller.

XIII.

Seit Mitternacht schon pfiff der Nordwind um das Haus und fuhr heulend und klagend um die Ecken, der anbrechende Tag brachte Regen und endlich Schneegestöber mit sich, und wie warm wir uns auch in unsere Mäntel auf der Fahrt zum Konsulat hüllten, zitterte ich doch, teils vor Aufregung, teils vor Kälte so sehr, daß ich nicht ein Wort der Begrüßung an Li Bai richten konnte, der bitterböse aussah und scheinbar auch nur bei einem Ofen zu sitzen wünschte.

Die kalte Begrüßung, der dunkle Himmel, der heulende Sturm und unsere triefenden Gewänder wirkten vereint dergestalt auf mich ein, daß ich ohnmächtig wurde, was den einen Vorteil mit sich führte, daß alle, auch Li Bai, sehr lieb gegen mich waren, als ich endlich die Besinnung wieder gewann.

»Du wirst sehen, wie schön es ist, verheiratet zu sein,« flüsterte Li Bai mir zu, als Jenny und auch Mama mit dem Konsul sprachen.

Ich hatte zwar gerade in dem Augenblick die allergrößten Zweifel bezüglich der Schönheiten oder Annehmlichkeiten einer Ehe, aber ich war froh, daß er froh war – eine Fröhlichkeit deckte die andere – und so lächelte ich ihm beruhigend zu und versicherte, mich wohl genug zu fühlen, um den Kontrakt zu unterschreiben.

»Nachmittags darfst du nicht ohnmächtig werden,« sagte er noch, als er mir aufhalf, »das ist gegen die chinesische Sitte.«

Ich versprach ihm, alles aufzubieten, um nicht gegen die chinesische Sitte zu verstoßen und dadurch beruhigt, geleitete er mich an den Tisch, und die Trauung oder wenigstens die Eheschließung, da jeglicher kirchliche Segen fehlte, wurde vollzogen.

Li Bai half uns freundlich in den Wagen, bat mich, nicht aufgeregt zu sein und kehrte hierauf in sein Heim zurück, um mich daselbst zu erwarten und feierlich zu empfangen.Nach unseren Gesetzen war ich nun Käthe Ming Tse.Mir deuchte fast, als wäre ich selbst eine andere geworden.

Mama und Jenny zogen sich auf meine Bitten zurück, und ich blieb allein mit den Chinesinnen, die mich in eine ihrer Landsmänninnen verwandeln sollten. Sie kämmten mein langes blondes Haar flach zurück, so daß meine Stirn doppelt hoch erschien, und gossen eine Menge wohlriechenden Oels darauf. Nachdem dies geschehen war, wollten sie mein Gesicht in die Arbeit nehmen, die Lippen mit Rot vergrößern und die Augenbrauen in eine schmale hochgeschwungene Linie verwandeln, während sie den Rest des Gesichts weiß zu färben wünschten. Aber gegen diesen Punkt des Programms wehrte ich mich entschieden. Wie ein Zirkusklown zweiter Güte wollte ich denn doch nicht aussehen. Mein Gesicht verblieb wie es war – und endlich mußten meine gelben Schwestern sich in das Unabänderliche fügen. Sie setzten mir den Brautschmuck auf das geölte Haar, das ich, fetttriefend wie es war, nicht berühren wollte, befestigten die aus Gold- und Silbermünzen und Ketten zusammengestellte kostbare Haube so gut es ging auf meinem vor Furcht und Angst ganz verwirrten Kopf und fanden, daß mir das unförmige Scheusal gut stünde. Hierauf steckten sie mich in seidene Unterwäsche, die wie die Oberkleider aus roter Seide war, warfen das rote Brautkleid über mich, das hoch am Halse geschlossen wird und zu den Schultern jäh abfällt, denn je greller diese Linie ist, desto schöner dünkt sie den Chinesen. Die Schultern dürfen um keinen Preis gerade sein, sondern müssen gegen den Arm zu abfallen. Das Kleid, das jede Biegung der Gestalt verdeckt und wie ein Kaftan bis zu den Knöcheln fällt, wird auf der linken Seite geknöpft, unter dieser Robe aber hatte ich weite Hosen, ähnlich denen der türkischen Damen, die lose über das Knie hinabfielen. Ueber mein Brautkleid gab man mir noch ein rotes Seidenkleidungsstück, einer Jacke ähnelnd, das mir bis etwas tiefer als die Mitte reichte und reich mit Gold gestickt war. Es hatte sehr weite Aermel, ebenfalls reich mit Goldstickereien verziert, aus denen meine Hände weiß hervorleuchteten. Trotz aller Bitten ließ ich mir nicht die Nägel färben und wollte auch nie sie mir wachsen lassen wie viele der reichen Chinesinnen es tun, bis sie nichts mehr in die Hand nehmen konnten, aus Furcht, die Nägel zu zerbrechen. Meine Füße, die von Natur schon klein ausgefallen waren (ich bin ja selbst so klein), wurden noch in zu enge Seidenpantöffelchen mit Goldstickerei gequetscht, was mich, vereint mit den ungewöhnlich hohen Absätzen, vom sichern Stehen abhielt. Ich wankte wie eine echte Chinesin unsicher im schwankenden Gleichgewicht hin und her.

Die Chinesinnen fanden mich sehr »gelungen« und betrachteten ihr Werk mit sichtlicher Genugtuung, als aber Mama und Jenny hereinkamen, fielen sie bei meinem Anblick beinahe um.Ich stand, besser, ich wackelte in der Mitte des Zimmers, fühlte mich nicht nur ängstlich bezüglich des Bevorstehenden, sondern auch rein physisch unbehaglich in den ungewöhnlichen Kleidern, dem geölten Haar, dem schweren Kopfputz und den schrecklichen Pantoffeln.Das konnte man mir auf den ersten Blick ansehen, und ich glaube, ich machte dazu das denkbar dümmste Gesicht.

Mama setzte sich auf einen Stuhl und starrte mich entgeistert an.Ihr europäischer Schönheitssinn empörte sich gegen eine solche Verwandlung meines äußeren Ichs, Jenny aber lachte zum erstenmal an diesem Tage und rief:

»Käthe, du siehst wie ein wunderschön geputzter Kartoffelsack aus! « Sie warf sich auf eines der niedrigen Sofas und krümmte sich vor Lachen.

»Wirst du als rote Vogelscheuche wirklich zu deinem Gatten gehen?« fragte mich Mama.»Wäre es nicht viel besser gewesen, dich ganz in Weiß mit Schleier und Kranz zu kleiden?Aber du willst einmal immer nach deinem Kopfe handeln,« setzte sie geärgert hinzu.

»Du vergißt,« warf ich ein, »daß es nicht mein Wunsch gewesen, so gekleidet zu gehen, sondern Li Bais.Soll ich ihm eine Bitte am Hochzeitstage abschlagen?«

»Gewiß hätten dich alle sehr schön als weiße Braut gefunden und nun siehst du so schrecklich aus,« ereiferte sie sich.

»Ach, Mama,« bat ich, »laß die Einwendungen.Die Chinesen finden ein weißes Kleid (ihre Trauerfarbe) nicht passend für einen Freudenakt wie eine Hochzeit und ich bin nicht länger Europäerin,« fügte ich langsam hinzu, während ich fühlte, wie mich etwas im Halse gewaltig würgte, »sondern Chinesin seit – seit – heute früh.«

»Leider!« entfuhr es der Mama.Es war ihr zum erstenmal wirklich leid, daß ich einen Chinesen geheiratet hatte, weil – weil ich dadurch verlustig ging, ein schönes europäisches Brautkleid zu tragen.Bei der zivilen Eheschließung hatte ich nur ein lichtbraunes Kostüm angehabt.

Jenny verstand trotz ihrer Jugend die Tragik des Augenblicks besser. Vielleicht dachte sie, wie anders ihre Trauung in Europa mit dem Doktor sein würde, wie ganz anders sie fühlen würde und wie froh ihre Altersgenossinnen sie umkreisen würden. Sie begriff, zum erstenmal vielleicht, was ich in dieser Stunde litt, wo weder eine Klage noch eine Träne mir entschlüpfte.

»Laß die Käthe,« rief sie fast gereizt und wollte mir um den Hals fliegen, aber dagegen wehrten sich die Chinesinnen.Das hätte ihre sorgsame Arbeit zerstören können.Ich lächelte meiner Schwester daher nur dankbar zu.

Mama fügte sich in das Unabänderliche.Wenn ihre Tochter schon Vogelscheuche sein mußte, so wollte sie daraus Vorteil ziehen.Sie betrachtete mich sorgfältig von allen Seiten, damit sie daheim in Europa allen Bekannten und den Verwandten davon erzählen konnte, sah sich den sonderbaren Brautschmuck genauer an und fand endlich, daß mein Ensemble noch ärger hätte sein können.Daß ihr Kind heute über Leben und Tod (denn bei einer chinesischen Heirat setzt man noch viel leichter als bei einer europäischen das Leben aufs Spiel) entscheidet, das hatte sie für den Augenblick vergessen.

Plötzlich verkündete ohrenbetäubendes Geschrei und nervenerschütternder Lärm, daß meine Stunde geschlagen hatte, und der Bote kam, um mich in das Haus meines Gatten zu überbringen. Ich fühlte eine innere Leere und ein Gefühl physischen Uebelbefindens, als ich mir vorstellte, daß ich nun mit allem abbrechen sollte, was ich bisher gekannt hatte, um an der Hand meines kleinen Chinesen einen neuen Lebenspfad einzuschlagen. War die kleine Hand hinreichend, mich zu stützen? War seine Liebe stark genug, mir Trost zu geben, wenn physische und moralische Leiden an mich herantreten würden? Eine grenzenlose Mutlosigkeit überkam mich, und ich nannte mich einen elenden Feigling, gezögert zu haben, als ich schon so nahe am Styx gestanden. Oh, wenn doch schon alle Qualen, alle Zweifel ein Ende hätten! Wie ich mich nach der Zärtlichkeit Li Bais sehnte! Würde er auch als Gatte mir so fremd bleiben? Wie schrecklich, wie schrecklich! Warum, warum hatte ich »ja« gesagt? Aber da stieg wieder jene schreckliche Leidenszeit in London vor mir auf und die Frage starb dahin im Herzen, bevor sie sich noch recht geformt hatte.

Der prachtvoll gekleidete Bote überreichte unterdessen im Nebengemache meiner Mama eine chinesische Rolle, auf der mit kunstvollen Zeichen geschrieben war, was ich Mama schon früher erzählte, das darauf stehen würde, nämlich, daß der dumme Vater seines noch dümmeren Sohnes nicht selbst um die Braut kommen, um sie von meiner Mama hohen und ehrenvollen Palast in seine niedrige Hütte zu führen, sondern lieber einen Boten schicken wolle, der melden soll, daß alles zum Empfange der Braut bereit sei. Der Brief, der auf rotem Papier geschrieben war, endete mit dem Wunsche, daß Mama ein Alter von hundert Jahren erreichen und ihr Geschlecht bis ins fünfte Glied gesegnet werden möge. Damit empfahl sich von der großen Mama der dumme jüngere Bruder. Chinesische Höflichkeit!

Jetzt begannen sowohl Mama als Jenny, trotz aller meiner Bitten, sich zu beherrschen, fürchterlich zu weinen und wollten mich immer und immer wieder in die Arme schließen, wogegen sich die fünf Chinesinnen, meine Ehrenjungfrauen, entschieden wehrten, so daß ich beständig hin und her gerissen wurde. Zum Schlusse schob mich eine ehrwürdige chinesische Matrone, die selbst schon viele Söhne ins Leben gesetzt hatte (denn nur eine solche darf es tun), zur Tür hinaus und warf mir, bevor ich die Schwelle überschritt, ein seidenes Tuch – natürlich auch rot – vor das Gesicht und über den halben Kopf, auf daß niemand meine Züge sehen sollte. Hierauf hob man mich in den engen Brautsessel, der auch ganz rot verkleidet und reichlich mit Seide austapeziert war, schob die rotseidenen Vorhänge zurück, versiegelte die Oeffnung mit einem kleinen roten beschriebenen Papierstreifen, und erst als nirgends mehr ein neugieriger Blick oder auch nur ein Lufthauch eindringen konnten, setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Ich im engen Stuhle, wo ich nur zusammengekauert sitzen konnte, sah nichts und atmete schwer, ich vernahm nur das wilde Pochen meines eigenen Herzens und fühlte nur eins: Das immer wiederkehrende Flehen, daß Li Bai lieb gegen mich sein würde. Wie ich mich vor all dem neuen fürchtete! Nicht nur vor der fernen Zukunft, sondern auch vor der nahen, der ganz nahen! Ob Männer ahnen, wie unser Herz vor Angst klopft, wenn wir unser Geschick auf ewig in ihre Hand legen? Ob sie wissen, wie schrecklich die Furcht vor jedweder Brutalität uns die Kehle zusammenschnürt? Ob sie rücksichtsvoller wären, wenn sie es wüßten? Es gibt wohl einige, die es sind, doch ach, ihre Zahl ist so verschwindend klein!

Jenny erzählte mir später, daß der Zug mit Musikanten begann, die auf einer Art Trompeten die ohrenzerreißendsten Laute hervorbliesen, während andere allerlei merkwürdige Instrumente bearbeiteten, die ganz gut imstande waren, auch das widerstandsfähigste europäische Trommelfell zu zersprengen; ihnen folgte eine lange Reihe von Fahnenträgern, die auf Stöckchen rote Bänder mit allerlei glückverheißenden Aufschriften trugen, welche sie erregt hin und her schwenkten und nicht wenig Lärm mit ihren Zungen dazu machten. Hinter diesen kamen andere Chinesen, die farbige Lampions trugen, was nach Jennys Angabe sehr hübsch aussah, fast wie unser Fackelzug daheim. Die Lampions waren vorwiegend rot, doch fand man auch andere Farben vor und alle hatten Sprüche darauf geschrieben, was die Wirkung vom chinesischen Standpunkt aus sehr erhöhte. Eine Anzahl Chinesen trugen große rotgemalte Schilder, auf denen in goldenen Buchstaben allerlei Zitate von Konfuzius und anderen großen Denkern standen, oft auch nur von Gelegenheitsdichtern geschrieben, die mit ihren Lobsprüchen den Ehestand verherrlichten. Hie und da sah man auch einen Chinesen mit einer Gans unter dem Arm – das Symbol ehelicher Treue – das sehr hochgehalten wird. Es gibt also, wie man sieht, Länder, wo selbst eine Gans zu Ehren kommt.

Im Hause eines Mandarinen sind Gefängnisse, Gerichtssäle, Gästeräumlichkeiten und schließlich die Privatwohnung beisammen untergebracht und geschickt verteilt. Als wir endlich dieses Haus erreicht hatten – das sich schon von außen durch die Stufen, die zum Tore hinaufführten, von den Häusern eines gewöhnlichen Sterblichen unterscheidet und das auch drinnen, wenn man einmal die verschiedenen Höfe und Pforten durchschritten hat und innerhalb der Mauer, die um so ein Haus oder besser einen Häuserkomplex führt, sich großer Ausdehnung erfreut – trug man mich samt meines Marterstuhles, in dem ich mehr tot als lebendig hockte, durch eine Doppelreihe von Musikanten. Sie brachten nicht nur mich zum Leben zurück, sondern sie hätten mit ihrem Lärm selbst die Toten aus den Gräbern hervorzaubern können – die Posaunen von Jericho mußten die reinsten Aeolsharfen gegen die chinesischen Musikleistungen gewesen sein. In der Vorhalle nahm Li Bai in Gegenwart aller Gäste feierlich die Siegel ab, klopfte an den Brautstuhl und schlug die Seidenvorhänge zurück. Eine chinesische Dienerin hob mich, noch immer mit dem »roten Fetzen«, wie ich das Seidentuch, das mir jede Aussicht benahm, innerlich betitelte, vor dem Gesicht, aus der Sänfte, lud mich geschickt, wie einen Lumpensack, auf den breiten Rücken und humpelte mit mir so durch mehrere Räume, sprang sogar über ein eigens zu diesem Zwecke entflammtes Holzkohlenfeuer, während eine zweite Dienerin einen Napf Reis, einige Speisestäbchen und Betelnüsse über mein sündiges Haupt hielt, was alles zusammen Dauerhaftigkeit und Ueberfluß bedeuten soll.

Im nächsten Raume angekommen, durfte ich mein Tuch bis über die Lippen heben um die »Vereinigungsbecher« roten Weines, die mit roten Bändern verbunden und bis zu unserer Ankunft mit einem roten Tuch geheimnisvoll umwunden waren, zu leeren. Kaum war dies geschehen, als man mich wieder auflud – Jennys Vergleich mit einem Kartoffelsack paßte auch in dieser Hinsicht vortrefflich – und mich in der großen Halle oder dem Haustempel vor der Ahnentafel wieder ablud, damit Li Bai und ich einen tadellosen Kotau vor den Vorfahren der berühmten Ming-Tse-Familie machen konnten. Li Bai opferte ihnen Wein. Sobald dies geschehen war, war der eigentliche Trauungsakt vorüber. Ich wurde wieder hochgenommen und durch eine Anzahl Zimmer und über den breiten Garten – so viel konnte ich trotz des Tuches bemerken – in unser künftiges Heim getragen. Hier setzte mich die Chinesin auf das Bett, die Hochzeitsgäste und andere Besucher – denn an solchen Tagen ist ein chinesisches Haus von allen Leuten überlaufen, ja selbst Bettler dringen ein, wenn man sich nicht früher mit einer großen Summe abkauft – stellten sich um mich, und Li Bai, der sich auf das zweite Bett geschwungen hatte, nahm mir langsam das eklige Tuch vom Gesicht. Schon nach einigen Augenblicken wünschte ich mir das Tuch lebhaft zurück, denn nichts zu sehen war noch immer besser, als in alle diese neugierigen Augen zu blicken, die mich feindselig betrachteten. Meine zukünftige – nein, jetzt schon meine wahre und unabschüttelbare Schwiegermutter – besah mich mit kritischen Blicken, denn in der Regel kennt sie die Schwiegertochter schon vor der Ehe, prüft sie mit Rücksicht auf ihre Kenntnisse in feinen Handarbeiten und im Gitarrespiel, wenn es sich um reiche Familien handelt. Bei armen Familien kommt meist ihre Körperkraft in Betracht, da sie als Lasttier dem künftigen Gatten und seiner ganzen Familie dienen soll, daher wählt man oft eine Frau, die um einige Jahre älter als der Mann ist, damit sie in jeder Weise den gestellten Ansprüchen entsprechen kann.

Hier war es nun ganz anders. Der Mandarin hatte alles erledigt und auch erzählt, daß ich keine der chinesischen Tugenden, wohl aber nützliche europäische Eigenschaften besäße, die ihrem Sohne zugute kommen dürften, über die seine Gattin aber weder ein Urteil formen, noch irgendwie Aufsicht halten konnte. Sie war eine kleine magere Frau mit straff zurückgestrichenem Haar, das nur im Genick einen Knoten bildete, und ich konnte nun leicht begreifen, warum Li Bai so klein und so zart war, trotzdem sein Vater sich einer für einen Chinesen ungewöhnlichen Größe erfreute. Li Bai war eben das Ebenbild seiner Mutter.

Alle Hochzeitsgäste besahen mich vom Scheitel bis zur Zehe, bis mir ganz unwohl wurde und nur eins mir zur Beruhigung war – nämlich, daß meine geringen Kenntnisse des Chinesischen mich nicht in den Stand setzten, alles zu verstehen, was um mich herum gesagt wurde, denn an diesem Tage hat jeder Gast das Recht und selbst die Pflicht, seine Meinung so unumwunden als möglich über die Braut auszusprechen und so viele anstößige Witze über sie zu machen, als es überhaupt denkbar ist. Die Braut aber muß unbeweglich sitzen, darf weder lachen noch weinen, noch sich vom Bette wegrühren oder eine Miene verziehen. Sie sitzt unbeweglich auf dem Lager, während alle sie betrachten wie etwa ein ausgestelltes Pferd, ein zu verkaufender Hund, oder ähnliches. Vom Kopfende des Bettes flattern rote Papierstreifen in Masse nieder. Auf einigen steht, so übersetzte mir Li Bai später, »Von diesem Bette aus möge sich euer Stammbaum gründen«, oder »Möget ihr mit Kindern reich gesegnet sein«, oder »Mögen Söhne in reicher Zahl euch erfreuen« und andere, mit ähnlichen Worten und gleicher Bedeutung, Sprüche, die mir gar keine Freude machten und deren Nichterfüllung ich innig erhoffte und sehr wünschte.

Ein spanisches Sprichwort sagt: »Sei der Tag lang oder sei er kurz – endlich erklingt dennoch das Aveläuten. « War der Tag mir auch länger als alle erschienen, die ich bis jetzt durchleben mußte, so brach doch auch der Abend an und damit nahm das Festessen seinen Anfang. Mama und Jenny nahmen nicht teil – das wäre wieder gegen die Sitten des Landes gewesen –, und ich war wirklich froh darüber. Es war mir stets leichter, eine unangenehme Lage, die sich nicht ändern ließ, allein zu überleben, als andere zu Zuschauern zu haben, die es mir wahrscheinlich nur erschweren würden die mühsam erkämpfte Fassung zu bewahren. Die Männer saßen in einem Zimmer an einem Tische, die Frauen alle in einem anderen Raume auch an einem Tische, und alle bedienten sich der gebenedeiten Stäbchen, mit denen ich noch immer nicht ordentlich umgehen konnte. Die niederen Sitze, die merkwürdigen Gefäße und merkwürdigeren Speisen, die meiner Ansicht nach aus zusammengeschnittenen Katzen, Hunden und Ratten bestanden (natürlich nur Einbildung, denn wir hatten Hühner und ähnliches Geflügel klein zerschnitten), die komischen Eßwerkzeuge und das ununterbrochene Geschnatter in einer mir fast ganz fremden Sprache – alles machte mich glauben, daß ich mich unter wilden Menschen befand. Appetit hatte ich keinen – und aus guten Gründen – und daher störte mich der Gebrauch der Stäbchen nicht. Ich mischte und mischte in der Schale herum und schien von allem zu essen, in Wirklichkeit kamen nur ein paar Bissen über meine Lippen und nur dem Tee huldigte ich, da er mich erfrischte. Sprechen konnte ich mit keinem Menschen und das erwartete scheinbar auch niemand von mir. So saß ich an der Tafel, eine traurige, kleine rote Seidenfigur, auf die alle Augen unablässig neugierig gerichtet waren, und hoffte, daß die Mahlzeit doch endlich aufhören würde. Ich dachte an Mama, an Jenny, an mein Vaterland, an meine Vergangenheit und wohl meist an Li Bai, aber Tröstliches leuchtete mir nicht aus allen diesen Gedanken entgegen. Jede Minute machte mich nervöser, je mehr der Abend vorrückte, um so weniger wünschte ich Li Bai zu sehen. Schließlich bedeutete sein Kommen meinen Fall vom Regen unter die Traufe oder von der Pfanne in das Feuer. Ich fühlte nur ein brennendes Verlangen, mich flach auf den Boden zu werfen und zu weinen – zu weinen – wie ich es seit London nicht mehr getan hatte.

Als die Suppe eingenommen worden war – damit hört eine chinesische Mahlzeit ebenso sicher auf, als eine europäische damit beginnt, und nachdem große Bowlen Reis und unzählige Schüsseln voll Herrlichkeiten in die Mägen der Anwesenden hinabgewandert waren –, wurde ich wieder zurück in das Brautgemach geführt, wo Li Bai mich begrüßte. Ich hätte ohnmächtig werden können, wenn ich überhaupt imstande gewesen wäre noch etwas zu tun, aber ich fühlte mich nicht mehr – ich war wie eine Wachspuppe, die sich bewegt, in der aber kein Leben ist.

Li Bai schickte alle Gäste fort – eigentlich sollen die jungen Gatten erst in der dritten Nacht allein gelassen werden, aber dagegen hielt sich Li Bai auf –, kam auf mich, die ich wie ein Häufchen Unglück am äußersten Bettrand zusammengekauert und stumm saß, zu und küßte mich zum erstenmal auf die Lippen.

»War es sehr schlimm, Käthe, so zu sitzen?« fragte er freundlich.»Du bist sehr brav und tapfer gewesen!«

»Nein, nicht so sehr,« erwiderte ich und fühlte, daß etwas in mir zu tauen begann, denn seine Zärtlichkeit tat mir in diesem Augenblicke wohler als meine Feder es je beschreiben könnte.

Er nahm mir langsam den schweren Brautschmuck ab, strich liebkosend mit der Hand über meine Wange und küßte mich mehrmals, was mich bald die Leiden der vergangenen Stunden und all die bitteren Zweifel vergessen ließ.Vielleicht würde ich dennoch glücklich werden.Ich faßte den festen Entschluß, meinem Gatten in jeder Weise entgegenzukommen und obschon ich auch in diesem Augenblick keineswegs seine Wünsche teilte, ließ ich es doch ruhig geschehen, daß er mir half, aus den unbequemen chinesischen Kleidern zu schlüpfen, wenngleich sie mir plötzlich gar nicht mehr unbequem schienen.So ändern sich je nach den Umständen unsere Anschauungen.

Von der Decke hingen unzählige Lampions nieder, die über das ganze Gemach ein rötliches Licht ergossen. Eines nach dem anderen wurde von Li Bai vorsichtig ausgelöscht, bis nur ein kleines Lämpchen in der östlichen Zimmerecke brannte.

Li Bai legte seine Arme zärtlich um mich, küßte mich (er hatte wirklich diese Kunst, wenn man die kurze Uebungszeit in Betracht zieht, ganz unglaublich gut erlernt) und sagte lächelnd:

»Ein Licht muß im Schlafgemach zweier Gatten immer brennen, das ist chinesische Sitte.Es stört dich doch nicht?« fragte er.

»O nein,« erwiderte ich, mich an ihn schmiegend, »aber warum verlangt die Sitte es so?«

»Damit die Kinder alle sehend auf die Welt kommen – wenn kein Licht brennt, werden sie blind geboren.«

Obschon wir in Europa dies nicht glauben, fügte ich mich willig.Von jetzt an war ich wirklich eine – Chinesin.


A.    F.    Seebacher   

XIV.

Wie heilt sich ein verlassen Herz,
Der dunkeln Schwermut Beute?
Mit Becher-Rundgeläute?
Mit bittrem Spott?Mit frevlem Scherz?
Nein, mit ein bißchen Freude.
C.F.Meyer.

XIV.

Am nächsten Morgen mußte ich mich wieder in chinesische Kleider kleiden, diesmal in dunkelblau, wenn ich mich recht erinnere, die wieder reich mit Gold gestickt waren, und deren Farbe, glaube ich, ein Sinnbild ehelicher Tugend sein sollte.

Jenny hatte rotgeweinte Augen und nicht nur ihre Guckerchen und ihr Gesicht, nein, ihre ganze graziöse Gestalt war ein verkörpertes Fragezeichen an mich.Ich lächelte ihr beruhigend zu – es mag wohl auch nicht sonderlich angenehm sein, einen Europäer zu heiraten und Li Bai war recht nett gegen mich gewesen, eine Klage wäre daher unbegründet erschienen.

Die Festlichkeiten nahmen ihren Fortgang. Masken betraten das Haus, um die Braut mit ihrem schrecklichen Aussehen erfolgreich durch das ganze große Haus zu jagen, hier, wo man fünfundsechzig Zimmer hatte, die alle zur Feier des Tages offen standen, wahrlich keine Kleinigkeit, um so mehr, als ich mich wahrlich nicht zum Laufen aufgelegt fühlte. Aber irgendwie entging ich ihnen doch und da ich unter Diwanen verschwand und mich gegen Kasten aller Arten drückte, fanden sie es amüsanter, die europäisch gekleidete Jenny zu verfolgen, die wie ein Wiesel vor ihnen herflog und schrie – schrie –, daß selbst chinesische Ohren davon befriedigt werden mußten, wie sehr sie sich auch nach Lärm sehnen. Der Mandarin erschien zufällig auf der Schwelle und lachte wirklich herzlich, als er Jenny so wild schreiend durch den Garten galoppieren sah. Endlich kam ihr Chung-Fu, mein Schwager, zu Hilfe, in dessen Arme sie plötzlich lief – was, wie sie mir nachher anvertraute, noch viel schlimmer war, als vor den schrecklichen Masken laufen zu müssen.

»Glaubst du, Käthe,« fragte sie, indem sie sich an mich schmiegte, »daß – der Doktor – dies – dies – als unpassend betrachten würde?«

»Meine liebe Jenny,« erwiderte ich und setzte eine unergründliche Miene auf, »kommt es dir nicht selbst treulos vor gegen den armen Doktor, der deine blonde Locke immer in der Brieftasche nahe an seinem nur für dich schlagenden Herzen trägt, daß du dich so mir nichts dir nichts einem Chinesen an den Hals wirfst?«

In Jennys Gesichtchen wetterleuchtete es bedenklich.

»Aber Käthe – ich – ich – bin ihm ja nicht – gar nicht – absichtlich in die Arme gelaufen – und – und es war so – so schrecklich!« sagte sie ganz verzagt und stotternd.

»Mach' dir nichts daraus, Jenny,« entgegnete ich munter und sah sie schelmisch von der Seite an. »Der Doktor wird es mit der Treue wohl auch nicht so genau nehmen und trotz der blonden Locke noch andere Mädchen an sein Herz drücken. «

»Oh, Käthe!« rief meine Schwester voll Entsetzen und machte so runde Augen, die sich überdies noch mit Tränen zu füllen begannen, daß ich sie augenblicklich in die Arme schließen und ihr sagen mußte, daß der Doktor ein Muster der Treue und Tugend war, der nur an sie dachte und nur für sie lebte, und daß auch sie ihm, trotz der unfreiwilligen Umarmung Chung-Fus (wie angenehm so eine Umarmung auch an und für sich sein mochte) seiner ganz würdig geblieben – vollkommen würdig, diesen Halbgott nach ihrer Heimkehr auf ewig glücklich zu machen.

»Oh, süßeste Käthe, glaubst du das wirklich?« fragte sie und sprang jubelnd auf.»Von allen Schwestern auf Gottes Erdboden bist du die weiseste und netteste und beste!«

Und daraus kann der Leser ersehen, wie leicht es ist, Beifall zu gewinnen, wenn man nur das sagt, was der andere hören will.

Bei der Festmahlzeit war die Tischordnung in gewissen Punkten europäisiert worden. Wohl saßen die Herren alle am unteren Ende der großen Tafel und die Frauen, wenn auch nicht in einem anderen Gemache, so doch abgesondert am oberen Tafelende, aber in der Mitte war es doch so eingeteilt worden, daß Mama den Mandarin, Jenny Chung-Fu und ich Li Bai an meiner Seite hatte. Mama und der Mandarin sprachen von europäischen Sitten und Gebräuchen, und Mama sprach lebhaft und unbefangen, als ob sie ihr ganzes Leben nur mit Chinesen zusammen gesessen, Jenny dagegen hatte ihr liebes Kreuz mit ihrem Tischnachbar, der nur sehr wenig Englisch, gar kein Deutsch und daher nur mit Gebärden sprach, die, vereint mit chinesischen Brocken, einigen englischen Wörtern und der Augensprache, zu der Chung-Fu als letztes verzweifeltes Mittel griff, eine Art primitiver Konversation zur Not zuließen. Verstand Jenny auch nur schlecht Englisch und gar kein Chinesisch und war die Gebärdensprache oft nicht ausdrucksvoll genug – auf die Augensprache verstand Jenny sich wie selten jemand und damit ging es endlich auch geläufig, nur hatte meine Schwester augenscheinlich keine Lust, mit einem Chinesen zu flirten.

Wir hatten Vogelnestersuppe, die Mama ungemein interessierte, deren Name aber nur eine falsche Uebersetzung eines Seegewächses ist, ferner frische Bambusblätter als Gemüse, die wirklich schmackhaft waren, Schinkenscheiben, die ganz an unseren Westfäler Schinken erinnerten, saftiges und schön serviertes Zuckerrohr, chinesische Kuchen, die wie umgestülpte Pfannen aussahen und die mit allerlei Schriftzeichen und Arabesken reich verziert waren, parfümierten Tee und andere Seltenheiten. Li Bai war, wie immer, sehr aufmerksam und warf mir mit seinen Stäbchen allerlei Leckerbissen in den Napf – Jenny dagegen, die immer auf und nieder sah und nie acht gab, was sie tat, war den unausgesetzten und ihren europäischen Begriffen sehr ungewohnten Angriffen ihres jüngsten Anbeters und Tischnachbars ausgesetzt und mir eine unerschöpfliche Quelle der Belustigung.

Schon als Kind hatte Jenny die Gewohnheit, den Mund offen zu halten, sooft sie über etwas erstaunt war.Hier, an einer chinesischen Tafel, wo alles auf merkwürdigen Schüsseln serviert wurde, wo die Gerichte selber so interessant und neu waren, wo man eigentümliche Laute vernahm, die in Europa – wenigstens in der guten Gesellschaft – nicht gang und gäbe waren, wo die Frauen mit ihren gemalten Augenbrauen, die Männer mit ihren glattrasierten Vorderköpfen und ihren Zöpfen (glücklicherweise hatten noch einige die Zöpfe nicht abgeschnitten), so fremdartig wirkten und ununterbrochenes Staunen erregten, kam es selbstredend oft vor, daß Jenny ihren hübschen Mund weit offen hielt und das Essen ganz vergaß.

Nach chinesischer Sitte darf der Gastgeber so etwas nicht zulassen. Daher formte Chung-Fu jedesmal in seiner eigenen Schüssel einen Knödel aus den besten Leckerbissen und war nicht so genau damit, ob er die Finger auch noch dazu zu Hilfe nahm oder nicht, und schob ihn, sobald das Meisterwerk transportfähig war, in Jennys einladend offengehaltenen Mund, die sofort anfing, Erstickungsversuche zu machen oder den Knödel herauszuwerfen. Vergebliche Mühe! Chung-Fu hatte so etwas vorausgesehen und hielt daher vorsorglich seine Hand dicht vor ihre Lippen. Der Knödel mußte hinunter – heraus konnte er nicht.

Sooft meine Schwester mit dem Stäbchen umsonst Fischversuche in ihrem Trögchen unternahm und ihre Augen vor Verwunderung weit aufriß, wenn die Ladung im letzten Moment zurückrollte, benützte der aufmerksame Chung-Fu, dem eine solche Danaidenarbeit jedenfalls Mitleid abpreßte, auch die Gelegenheit und schob ihr etwas in den Mund – mit seinen Stäbchen, seinen Fingern oder auf andere Weise, das war ganz Nebensache –, Jenny wurde gefüttert, wie sehr sie sich auch wehrte.

Diese Fütterungsprozesse unterhielten nicht nur mich, sondern die ganze Tischgesellschaft – besonders die weibliche.

Am dritten Tage hatte ich ein lichtes, gold- und silbergesticktes Seidenkleid an, das auch irgendeine symbolische Bedeutung hatte, die ich indessen vergessen. Heute erst wurden wir endgültig verbunden, denn man führte uns zu den Stammtafeln der Vorfahren, in anderen Worten an den Hausaltar, wo wir drei tiefe Kotaus machen mußten. Zu beiden Seiten des Altars standen schön geschmückte Tische, auf welchen Eß- und Trinksachen aller Art aufgestellt waren, die den Ahnen geopfert wurden. In der Mitte der Halle befand sich eine Art Podium und dieses bestieg nun der Mandarin, gleichfalls in seiner Festtoilette, und teilte unter zahllosen Kotaus den Vorfahren mit, daß Li Bai und ich nach allen Regeln der chinesischen Sitte und nach Befragung des Zauberers Mann und Frau geworden waren und daß er, der Mandarin, nun um den Segen der Vorfahren für uns bitte. Er verließ nach weiteren Kotaus den erhöhten Sitz und wir traten näher, um den von diesem wichtigen Akte verständigten Ahnen unsere Aufwartung zu machen, die in der dreimaligen Wiederholung eines tadellosen Kotaus bestand. Damit waren die eigentlichen Hochzeitszeremonien zu Ende und wir in den Augen der ganzen Familie erst wirklich Mann und Frau, deren erste Aufgabe es nun sein mußte, so schnell wie möglich einen Sohn und Erben zu bringen.

Würde ich eine echte Chinesin gewesen sein, so hätte ich an diesem Tage meinen Eltern eine Gans oder doch den Teil einer gebratenen Gans nach Hause getragen haben, als Zeichen, daß mein Gatte mit mir zufrieden und an meiner Unschuld nichts auszusetzen war.

Mama und Jenny sollten noch etwa drei Wochen bleiben, Jenny vielleicht sogar drei Monate, und vorläufig wohnten beide in den Gastzimmern, über die jeder Mandarin reich verfügt.Jeden Abend wurden alle Tore sorgfältig geschlossen und von da ab machte der Nachtwächter seine Runde – niemand konnte heraus, niemand mehr hinein, ohne von ihm gesehen zu werden.

Die chinesische Zeitrechnung weicht von der unsrigen bedeutend ab. Die Jahre rechnet man entweder nach einem Zeitabschnitt von 60 Jahren oder nach der Regierung eines Herrschers, der bei seiner Thronbesteigung immer auch eine Art Regierungstitel annimmt. Letztere Art ist die verwickeltere. Die Monate selbst richten sich genau nach dem Monde und zählen bald 29, bald 30 Tage, aber um den dadurch entstandenen Unterschied auszugleichen, hat man alle drei Jahre einen Extramonat und rechnet in Zeitabschnitten von 19 Jahren, während welcher Zeit sieben Extramonde eingeschoben werden. Für die ersten zehn Tage jedes Monats hat man einen besonderen Namen. Der Tag wird in zwölf Stunden eingeteilt und jede chinesische Stunde entspricht zwei europäischen Stunden.

Die Tage flossen ruhig dahin. Mama und Jenny wanderten in Tientsin herum, besahen alles, was sehenswert war und ließen sich selbst durch angebrochene Kälte nicht abhalten. Ich brauchte mich um den Haushalt nicht zu kümmern – die chinesischen Diener und Dienerinnen besorgten alles und man hat ihrer viele, da ein Monatslohn sich auf ein bis zwei Mark beläuft. Kost und Wohnung muß man allerdings dazurechnen, aber wie wenig ist das, wenn man unsere Löhne in Europa betrachtet! Die Kost erhielten wir, wie alle Hausgenossen, aus der gemeinsamen Küche des Mandarins. Wenn irgendwo noch ein Staubwölkchen blieb, so war Li Bai schon hier, um es mit wahrem Genuß abzuwischen. Er fand kein größeres Vergnügen, als so recht eifrig überall Ordnung zu machen, alles nett aufzustellen, und alle seine Sachen durchzusehen. Meine Hauptaufgabe bestand daher darin, Li Bai zu überreden, mit mir auf deutsch, englisch oder französisch zu lesen und sich die englische Literatur und Geschichte etwas öfter und näher anzuschauen als bisher. Umsonst! Wohl lasen wir häufig zusammen und ich konnte auch kleine Fortschritte bemerken, die besonders den Mandarin beglückten, wenn er gegen Abend auf eine Stunde zu uns kam, aber dauerndes Interesse oder wirklichen Fleiß konnte ich bei ihm nie zutage fördern. War er nicht in Stimmung, so sagte er, daß er sich »miserable« fühlte und da war mit ihm nichts anzufangen. Schon in London hatte ich bemerkt, daß eigenartige Stimmungen ihn überkamen, jetzt aber gestand er mir offenherzig ein, daß er in solchen Augenblicken und an solchen Tagen (mir fiel es später auf, daß sie sich etwa alle vierzehn Tage wiederholten und immer am ärgsten zu Beginn jedes Monats waren) die Lust in sich fühle, jemand zu töten oder doch recht weh zu tun. Körperlich tat er mir nicht weh, aber moralisch folterte er mich an solchen Tagen bis zur Unerträglichkeit. Er konnte die grausamsten Sachen äußern, die ihm durch den Kopf fuhren, und konnte ein geradezu teuflisches Vergnügen daran finden, mich weinen zu machen. Sah er erst Tränen in meinen Augen, so quälte er mich auf die entsetzlichste Art stundenlang weiter und nur als ich gelernt hatte, gleichgültig auszusehen, ließ er schneller von dieser Quälerei ab. Wenn er diese Anfälle hatte, so leuchteten seine Augen finster und bösartig unter den geschlossenen Lidern hervor, und sein Gesicht verzerrte sich von Zeit zu Zeit zu einem höhnischen Lächeln. Es war umsonst, in solchen Augenblicken ein besseres Empfinden in ihm wachzurufen – er war gegen alles Gute und Edle taub. War der Anfall vorüber – er war oft von Kopfschmerzen begleitet und dauerte von sechs Stunden bis über zwei Tage –, so war er wieder der nette kleine Chinese von ehedem. Wenn ich ihm dann leise vorhielt, daß er so wenig nett gegen mich gewesen, versuchte er alles gut zu machen, indem er mich küßte, was er als Universalmittel gegen alle meine Leiden ansah, da ich, in deren Herzen die Hoffnung auf bessere Zeiten immer wieder bei dieser Zärtlichkeit zu erwachen begann, stets lächelte, wenn er mich küßte.

Ausgehen durfte ich nicht – war er übellaunig, d.h.»miserable«, wie er es nannte, so quälte er mich halb zu Tode dafür, und war er gut gelaunt, so neckte er mich und warf mich scherzweise herum und brummte wohl stundenlang, indem er kühn behauptete, daß ich das Wiederkommen ganz vergessen hätte.Daher schloß ich mich Mama und Jenny beim Ausgehen kaum an.Fragten die beiden Li Bai, ob ich denn nicht mitgehen dürfte, so entgegnete er: »Gewiß, gewiß,« aber nachher war es ebenso gewiß, daß er mich dafür ordentlich quälte.

Blieb ich indessen bei ihm zu Hause und waren seine Anfälle vorbei, so hatten wir eine unerhört schöne Zeit. Da spielte Li Bai mit mir Fangen, Verstecken und andere Spiele, küßte mich oft und zärtlich und verwandelte sich ganz in eine kleine nette Spielkatze. Ich hatte eine ungewöhnlich ernste Kindheit gehabt – Jenny, die ein Muster des Gehorsams war, blieb gern bei den vielen Mädchen in der Pension. Aber für mich, den Aufwiegler, den Freigeist und Ausbund des Ungehorsams und der Widersetzlichkeit, bedankte man sich sofort und schickte mich zurück, dahin von wo ich gekommen. Ich hatte deshalb nur wenig Spielgenossen gehabt, lieber gelesen, gelernt und gegrübelt, wie frühreife Kinder es tun, und fühlte mich nun wirklich glücklich darüber, daß ich einen so heiteren Spielkameraden in meinem Gatten gefunden hatte. Zum Ideenaustausch und moralischen Halt konnte er mir nicht dienen, als Gatte entsprach er zu wenig unseren europäischen Anschauungen, aber als Spielgenosse war er unübertrefflich und noch heute denke ich mit ungetrübter Freude an unser Spiel zurück – wie wir aufeinander warteten, wie eines das andere aussperrte, wie ich mit seinem Tagebuch davonlief und er meine Briefe zu erhaschen und zu untersuchen versuchte und wie das einzige Mittel, das ich erfolgreich gegen seine kräftigen Hände (denn er war sehr stark) verwenden konnte, der große Badeschwamm war, den ich ihm vollgetränkt entgegenhielt und vor dem er große Hochachtung hatte, so daß ich den Schwamm als meinen sichersten Schild betrachtete und bei unseren Neckereien immer zuerst auf den Waschtisch zuflog.

Li Bai hatte seit dem Hochzeitstage, wo er ganz wie ich in rotseidene und goldgestickte Roben gehüllt gewesen war, seinen europäischen Anzug abgelegt und trug nun ausschließlich sein kaftanartiges chinesisches Gewand aus weicher Seide, das zur Winterszeit warm wattiert war.Er fragte mich oft, ob ich nicht auch lieber die Trachten der chinesischen Frauen tragen würde, doch dagegen wehrte ich mich, nicht etwa aus lächerlicher Eitelkeit, sondern nur weil ich damit allzusehr jede Spur der Europäerin verwischt hätte, und dies wünschte ich um meiner Schwiegermutter willen nicht.Sie haßte mich, das fühlte ich ganz genau, wenn sie auch nie irgend etwas offen Feindliches gegen mich unternahm.Sie wußte Li Bais Stimmung auszunützen, wenn er »miserable« war, um mich durch ihn quälen zu können, und ich verdankte es auch ihr, daß Li Bai sich so sehr sträubte, mich mit meinen Verwandten ausgehen zu lassen.

Der Mandarin hatte noch außer Li Bais Mutter, seiner rechtmäßigen Frau, drei Konkubinen, die der armen Frau das Leben oft schwer machten und Li Bai, der seine Mutter innig liebte – sie war gewiß die einzige, der dieses seltsame Herz ganz gehörte –, war oft streng und unfreundlich gegen diese drei Sklavinnen, wie er sie nannte. Ich sprach nur wenig mit meiner Schwiegermutter, da meine Kenntnis des Chinesischen eine allzu geringe war, und wenn ich auch manchmal mit Li Bai in die seltsame alte Küche gehen durfte, um sie dort ihre Befehle erteilen zu sehen, wichen wir uns gefühlsgemäß doch so oft als möglich aus; ich hütete mich aber ebensosehr, die drei Sklavinnen irgendwie zu beleidigen und grüßte sie immer, sooft wir uns trafen, was, wenngleich Li Bai unangenehm, dem Mandarin sehr angenehm war.

So war es mir gelungen, ohne Feindlichkeiten im Hause meines Schwiegervaters zu leben, bis ein Ereignis eintrat, das sehr nachhaltige Folgen nach sich zog.Seit mehreren Wochen – Mama hatte ihren Aufenthalt ausgedehnt und war nun schon fünf Wochen länger als ursprünglich festgesetzt, in Tientsin – war ich täglich, mit Li Bais »ungnädiger« Erlaubnis (er fügte sich nur den Befehlen seines Vaters), zur Bank gezogen, wo ich zuerst nur vereinzelte Briefe, später aber eine ganz beträchtliche Zahl, schrieb, besonders als der Mandarin sich überreden ließ, eine Schreibmaschine zu kaufen, mit der ich allein umgehen konnte.

Wir sprachen fast nie mehr als das Allernotwendigste miteinander, und ich unterließ es nie, so höflich als möglich gegen meinen Schwiegervater zu sein, dessen immer gleiches ruhiges und unergründliches Wesen mir Achtung und Interesse einflößten, zu denen sich auch etwas heilsame Furcht mischte. Er legte meist die Arbeiten vor mich auf den kleinen Tisch und sagte in kurzen Worten, was er auszudrücken wünschte. Er rechnete nie seine Zahlen im Kopfe oder selbst auf dem Papier aus, sondern bediente sich wie alle Chinesen und Japaner der Rechentafel, die sieben Kolonnen umfaßte und auf der man sicherer und schneller als nach unserem europäischen System bis in die Millionen rechnen konnte. Hatte er die Summe bestimmt, so schrieb er sie in chinesischen Ziffern nieder, die ich sehr gut lesen konnte, da ich mich schon in Europa daraufhin geübt hatte, und zur Vorsicht übersetzte ich sie stets in unsere Ziffern, auf die er zur Prüfung immer noch einen Blick warf. War alles erledigt, so setzte ich mich an die Maschine und schrieb voller Seligkeit einen Brief nach dem anderen. In London, wo ich oft die fesselndsten Uebersetzungen zu machen hatte, wäre mir diese Bankarbeit entsetzlich einförmig erschienen, aber hier war es mir, als ob ich wieder einmal freigelassen worden wäre, um mich in meinem gewohnten Element zu tummeln. Da fiel das Fremdartige und Gedrückte meines Wesens ab, da wurde ich wieder fest und bestimmt in allen meinen Ansprüchen und fühlte neuerdings, daß ich ein vollberechtigter Mensch war.

Mein Schwiegervater lobte mich nie – weder wenn ein Funken von erhöhtem Wissen sich bei Li Bai zeigte, der gern ein wenig vor seinem Vater seine Kenntnisse lüftete, noch wenn in der Bank ein Brief nach dem anderen in verschiedenen europäischen Sprachen verfaßt rein und nett kopiert vor ihm lag –, aber ich merkte eins: er wies alle Bitten Li Bais, mich nicht zur Bank kommen zu lassen, energisch ab, und auch bei den Studien wußte er Li Bai unter mein Regiment zu stellen. Und dann kam der erste ernste Auftritt.

Chung-Fu, der zwar schon verheiratet war und auch ein Söhnchen besaß, mit dem Jenny sich lebhaft angefreundet und das von ihr sogar etwas Deutsch zu sprechen erlernt hatte, fand an meiner Schwester größeren Gefallen als es mir ratsam schien.Er folgte ihr überallhin, war immer sehr aufmerksam gegen sie und machte ihr allerlei kleine Geschenke, wenn gerade niemand in der Nähe war – Streifen mit chinesischer Schrift, Fächer, kleine Vasen usw.Jenny war leichtsinnig und wohl auch arglos, sie nahm alles an und lachte Chung-Fu aus, aber ich wurde immer besorgter und endlich bat ich Mama, wie schwer mir der Abschied auch wurde, um Jennys willen heimzureisen.Ich gab Mama keinen näheren Grund an und sagte nur, daß Jenny heiratsfähig sei und es ungerecht wäre, sie länger als nötig in China zurückzuhalten.Mama, die von den Herrlichkeiten des Himmlischen Reiches genug hatte, entschloß sich leicht zur Abreise, obschon sie mich ein »gefühlloses« Wesen nannte, da ich sie selbst darum bat.Ich quittierte den Vorwurf, so ungerecht er war, schweigend und atmete erleichtert auf – doch ich frohlockte zu früh.

Am Morgen des folgenden Tages sprach Mama zum Mandarin darüber und sagte, daß ihre Geschäfte es nötig machten, nach Europa zurückzureisen, wenn sie auch nur mit blutendem Herzen von ihrer lieben Tochter Käthe schied; doch sie wisse sie ja in guten Händen usw. usw. , was Mütter eben unter solchen Umständen zu sagen pflegen, ob es nun wahr oder nicht.

Der Mandarin äußerte eine Reihe höflicher Klagen und stimmte ihrem Entschluß hierauf vollkommen bei, nur sagte er, daß sie sehr gut ihre Geschäfte allein besorgen könne, und daß Jenny noch einige Monate bei mir bleiben müsse.

»Aber Mandarin,« rief meine Mama, »Jenny ist ein heiratsfähiges Mädchen und nun ist die Zeit, sie daheim auf Bälle zu führen und ihr einen passenden Mann zu suchen.«

»Und wenn,« fragte der Mandarin langsam, »und wenn Jenny nun hier einen Mann finden würde, der reich ist und ihr eine glänzende Versorgung bieten könnte?«

Mein Herzschlag stockte.Sollte der Mandarin ernstlich daran denken, Jenny seinem zweiten Sohne Chung-Fu als Konkubine zu geben, oder wollte dieser unter irgendeinem oberflächlichen Vorwand sich von seiner chinesischen Gattin scheiden lassen, um Jenny an sich zu knüpfen?»Ach, das ist wohl ausgeschlossen,« dachte ich.

»Chinesen heiraten gewiß nicht gern Europäerinnen und –«

»Und wenn sich nun so eine Partie doch fände?« unterbrach der Mandarin meine Mutter.

»So wäre dies auch ganz umsonst, selbst wenn er der reichste und beste Mann wäre! « sagte ich, indem ich mich erhob und auf die beiden Sprechenden zutrat.

Die Augen des Mandarins öffneten sich nicht, nur die Lider zuckten, und ich hatte das Empfinden, als ziehe sich eine tiefe Linie von jedem Augenwinkel gegen die Schläfen zu.Er war ganz, ganz ruhig, und seine Stimme klang sehr gelassen, aber mit eisiger Kälte durchzittert, als er sein Haupt leicht mir zuwandte und fragte:

»Und warum?«

»Ja, warum, Käthe?Wäre es nicht ein Glück für Jenny –?«

Ich bebte innerlich vor Entrüstung.Wäre Mama wirklich imstande, Jenny um schnöden Geldes willen an einen Chinesen zu verkaufen und allein nach Europa zurückzureisen?Ich betrachtete sie.Sie war noch heute eine hübsche und vor allem eine elegante Frau – sie würde sich wahrscheinlich wieder verheiraten, sobald ihre Töchter erfolgreich verschachert worden waren.Aber nein, Jenny sollte ihr Glück nicht verscherzen, sollte es nicht verlieren um selbstsüchtiger Pläne anderer willen, daher sagte ich ruhig und entschlossen, wie ich es wohl sonst nie gewagt haben würde, dem Mandarin zu antworten:

»Weil meine Schwester schon heimlich verlobt ist!« sagte ich und blickte Mama unverwandt an.

»Seit wann bestimmen Kinder selbst über ihr Geschick und seit wann ist der Wille der Tochter maßgebender als der der Mutter? « fragte der Mandarin und seine Augen ruhten vernichtend kalt und streng auf mir. Wenn er böse gewesen wäre, wenn er mit blitzenden Augen auf mich zugetreten sein würde, da hätte ich mich lange nicht so unheimlich berührt gefühlt, als von der kalten, vollkommen ruhig gestellten Frage und dem ausdruckslosen Gesicht, auf dem sich nicht eine Miene verzogen hatte.

»In Europa bestimmen wir selbst über unsere Zukunft!« erwiderte ich mit äußerster Gelassenheit.

»Mit wem ist Jenny verlobt?« fragte Mama.

Jetzt hieß es va banque spielen.

»Mit Doktor Emil Wurmbrandt!« sagte ich.

Jenny war glücklicherweise abwesend – ihre Verlegenheit, ihr Zögern hätte alles verderben können.Ich blickte Mama fest an und sagte mit Nachdruck:

»Der Doktor wird in wenig Jahren eine schöne gesellschaftliche Stellung haben – seine Eltern sind wohlhabend und einflußreich – Jenny paßt nur zu einem Europäer!« sprach's und wandte mich ab.

»Sind die Wünsche Ihrer Töchter für Sie maßgebend?« fragte mit unverkennbarem Spott der gefürchtete Mandarin.

»Ich will meine Kinder glücklich sehen!« entgegnete Mama, die nur an den Doktor, an die Verbindungen seiner Eltern, an den Glanz einer Trauung, den Neid der Tanten und so weiter dachte, und an der jeder Pfeil des Spotts wirkungslos abprallte.

»Ich kenne den Doktor sehr gut und wünsche lebhaft eine solche Verbindung! « sagte Mama rasch. »Das süße Dingelchen hat wohl aus lauter Scheu über den Antrag nicht gesprochen, bis wir wieder auf der Heimreise wären! « fügte sie mit sichtlicher Befriedigung hinzu. Sie dankte meinem Schwiegervater warm für die Gastfreundschaft, die er ihr und Jenny gezeigt hatte, und drückte ihr Bedauern aus, daß sie seine Bitte, Jenny noch einige Monate in China zu lassen, nicht erfüllen könne, damit neigte sie grüßend das Haupt und eilte auf ihre Zimmer zu.

Ich fühlte, wie etwas mir kalt und unbehaglich den Rücken hinablief, als ich die verschleierten Blicke des Mandarins auf mich gerichtet sah.Wir standen uns wohl eine geschlagene Minute regungslos gegenüber, dann sagte er kalt:

»Sie sind sehr bemüht, Ihrer Schwester Glück zu gründen – ist es so schlimm, mit einem Chinesen verheiratet zu sein?«

»Nein,« antwortete ich tonlos, »aber man muß auf vieles verzichten, was man in Europa in einer Ehe finden kann.Wenn ich mit Li Bai glücklich bin, folgt daraus noch nicht, daß meine anspruchsvolle Schwester es auch sein würde.«

»Und was muß man in einer chinesischen Ehe entbehren?« fragte er finster.

Ich dachte an Li Bais wechselndes Verhalten, seine oft ausbrechende Grausamkeit, seine Gleichgültigkeit gegen mein Unwohlbefinden, seinen Mangel an Nachsicht und seine immer seltener werdenden Liebkosungen.

»Zärtlichkeit und Freiheit!« erklärte ich daher unerschrocken.

Er schien meine Entgegnung absichtlich zu überhören.Er verweilte einige Sekunden lang in derselben Stellung wie früher, dann sagte er:

»Mein Plan mißlang – durch Ihre Schuld.« Er fügte kein einziges Wort hinzu, er sprach den Satz nicht lauter als alle anderen Sätze aus, aus seinen ruhigen Gesichtszügen sprach keine Drohung – nicht einmal die geringste Unzufriedenheit – und doch wußte ich, daß kein Verbrecher so bitter bestraft werden würde für sein Vergehen, als die kleine Schwiegertochter, die seine Pläne so jäh über den Haufen gestoßen.

»Um Jennys willen,« sagte ich mir, als ich mit tiefer Verbeugung von Ming Tse senior Abschied nahm.

Kaum war ich glücklich seiner angsteinflößenden Persönlichkeit entgangen, als ich Jenny suchte und sie endlich mit Chung-Fus Söhnchen auf dem Schoße fand, mit dem sie eifrigst spielte und den sie küßte.Dieser Anblick erschreckte mich so, daß ich alles andere darüber vergaß.

»Um Himmels willen, Jenny,« rief ich, »küsse den Kleinen nicht.Du weißt, wie furchtbar unsittlich man das Küssen hier findet, und daß meine Schwiegermutter es mir nie verzeihen würde, so etwas geduldet zu haben?«

Jenny ließ den kleinen siebenjährigen Chinesen von ihrem Schoße auf den Boden gleiten. Da flog auch schon meine Schwägerin herbei und riß das Kind zeternd mit sich fort. Ein haßerfüllter Blick traf meine Schwester und dann auch mich.

Kaum waren wir allein, als ich Jenny von meinem Gespräch mit dem Mandarin erzählte.

»Aber Käthe, der Doktor will mich am Ende gar nicht, er hat nie –« warf sie ein.

»Du mußt Mama sagen, daß er um dich in aller Form gefreit hat!« erklärte ich mit Bestimmtheit.»Ich werde dir einen Brief mitgeben, den du sofort aufgibst, wie du frei hier herauskommst.Wahrscheinlich wird der Doktor dich heiraten, denn er scheint dich zu lieben, dafür spricht die Locke – und anderes, aber wenn auch nicht –, so lange dich der Arm chinesischer Gerechtigkeit erreichen kann, mußt du Mama und alle anderen Leute in dem Glauben lassen, daß du mit deinem Doktor verlobt bist.Jenny,« fuhr ich tiefernst fort, »wenn du einen Fehler machst, kommst du nie mehr nach Europa zurück.«

Meine Schwester sah den Ernst der Lage ein und spielte ihre Rolle vortrefflich. Ich selbst schrieb einen langen Brief an den Doktor, den Jenny in ihrer Bluse versteckt herumtrug, bis es ihr gelang, ihn unbemerkt in einen Briefkasten zu werfen. In dem Briefe aber hatte ich dem Doktor die ganze Sachlage erklärt und ihm gesagt, daß er sich nicht für gebunden zu halten brauche, da ich Mama sofort von dem wahren Sachverhalt verständigen würde, sobald China mit seinen Schrecken hinter den mir teuren Reisenden liegen werde.

Zwei Tage später reisten Jenny und Mama ab.So sehr zitterte ich um das Glück meiner Schwester, daß ich fast gar nicht weinte, als sie schieden, und erst als ein Telegramm von Nagodan mir sagte, daß sie das Himmlische Reich wieder verlassen hatten, überkam mich das Bewußtsein meiner grenzenlosen Einsamkeit.Seit dem Gespräch mit meinem Schwiegervater wurde ich nicht mehr in die Bank gerufen, und mit der Abreise Mamas und Jennys war das letzte Band zerrissen, das mich an die Außenwelt knüpfte.

Ich war wieder allein – wieder der Einsamkeit preisgegeben – und besaß noch weniger als früher.Ich hatte eines Trugbildes wegen das letzte Gut geopfert, das ich besessen hatte – die Freiheit!

Erst jetzt war ich wirklich allein!


Und wieder vergingen Tage und Wochen.

XV.

Von keinem Leid, so schwer es sei,
Laß stimmen deine Seele trüber.
Geht auch dein Leiden nicht vorbei,
So gehst du doch vorüber.
Hartmann.

XV.

Es mochten drei Wochen nach Mamas Abreise verstrichen sein, als Li Bai eines Abends mit ganz entstellten Zügen zu mir gestürmt kam. Der arme Kerl konnte nicht sitzen, so furchtbar hatte sein Vater auf ihn losgeprügelt. Li Bai hatte sich gegen eine der Konkubinen vermessen und sich erlaubt, sie zu schlagen, als sie sich ihm widersetzte, wofür der Mandarin von seinen väterlichen Rechten ausgiebigen Gebrauch gemacht und seinen jüngsten Sohn mit dem Stocke bearbeitet hatte. So etwas klingt uns Europäern ganz unglaublich, ist es jedoch in Wirklichkeit nicht. Auch wenn der Sohn schon vierzig Jahre alt ist, darf der Vater ihn durchprügeln, und das so kräftig und so oft er nur will – ausgenommen, wenn der Sohn selbst Vater ist. Im Augenblick, wo er diese Würde erreicht hat, darf der Vater ihn nicht mehr körperlich züchtigen, denn da ist er endlich, ob er nun fünfzehn oder fünfzig Jahre zählt, »Respektsperson« geworden. Ein Mann, der keine Kinder hat, ist in China eine wertlose Person – wahrscheinlich strafen ihn die Götter, indem sie ihm für seine Vergehen keinen Erben schenken wollen.

Erbittert über seinen Vater, war Li Bai lange Zeit in einer solchen Wut, daß man mit ihm gar nicht sprechen konnte, und als er endlich wieder gefasster war, beschwor er mich, schnell ein Kind zu haben, damit er seine Freiheit wiedererlangen könne.In solchen Augenblicken sehnte er sich, glaube ich, nach dem freien Europa zurück.

Ich kann kaum sagen, daß in unserem Verhältnis eine große Veränderung eintrat, nur wurde Li Bai immer kälter, blieb immer länger abwesend von daheim und wurde immer reizbarer. Seine Anfälle wurden immer heftiger und wiederholten sich häufiger als zuvor, was mich aber am meisten verwunderte und mit Angst erfüllte, das war zweifellos der Umstand, daß die leichte Tünche europäischer Kultur langsam aber sicher von ihm abglitt, etwa wie eine Schlange langsam aber ununterbrochen ihre alte Haut abstreift. Er war reinlich – das war ihm angeboren –, aber dies war auch die einzige Tugend, die nicht ins Wanken geriet. Alle die kleinen Aufmerksamkeiten, die er mir in Europa so oft gezeigt und im Beginn unserer Ehe noch geübt hatte, verschwanden nach und nach. Er ging nun nie mehr hinter, sondern nach chinesischer Sitte vor mir, er öffnete nicht länger die Tür für mich, um mich durchzulassen, sondern nahm von meiner Gegenwart keine Notiz. Beim Essen bediente er mich nicht wie einst, sondern warf einige Speisen auf meinen Teller oder in meine Schüssel, oft auch erst, nachdem er sich selbst bedient hatte. Er tadelte – und dies mit Recht – meine Abneigung gegen häusliche Beschäftigungen und meine Unordnung, und wenn er mit mir studieren sollte, war er so bissig in seinen Bemerkungen, so unhöflich und oft so grausam, daß ich nur mit Zittern daran zurückdenke. Dazwischen konnte er Anfälle seiner Wildheit haben und mich jäh am Halse zu würgen beginnen, was ihm stets leid tat, sobald er wieder sein eigenes Ich war. Wenn er manchmal wieder lieb wurde, war es nur in höchst gleichgültiger Weise, und seine stereotype Entschuldigung für alle seine Eigenarten war, daß alle Weiber gleich seien. – So lange sie den niedrigsten Zwecken dienten, war es einerlei, wie sie aussahen oder wer sie waren. Jede Europäerin wird mir nachfühlen können, wie ich darunter litt, selbst wenn ich um des lieben Friedens willen schwieg.

»Wenn dies deine Anschauungen sind, Li Bai,« sagte ich eines Tages, »warum hast du dann gerade mich gewählt?«

»Weil du eben am nächsten warst!« erwiderte er mit mehr Aufrichtigkeit als Zartgefühl.

Auch an anderen entmutigenden Einflüssen fehlte es nicht. Nach langer Zeit hatte der Mandarin mich wieder einmal in die Bank rufen lassen, wo zu meiner Freude ein großer Haufen Korrespondenz zur schleunigen Erledigung auf mich wartete. Ich arbeitete mit fieberhaftem Eifer und vergaß für die Zeit alles Bittere in meiner Existenz, als sich die Tür öffnete und zwei Europäerinnen und ein Europäer eintraten. Ich mußte eine Weile lang allerlei Bankangelegenheiten besprechen, da mein Schwiegervater ausgegangen war und die anderen Beamten der europäischen Sprachen nicht mächtig waren, und bald entspann sich das lebhafteste Gespräch.

Der Herr war schon zwei Jahre ansässig in Tientsin, die Damen waren ihn soeben besuchen gekommen, und nun erzählte er uns allen seine humorvollen Erfahrungen mit den chinesischen Dienstboten.

»Da ist zuerst mein »Boy« mit seinem Pidgin Englisch, der mir vielen Verdruß macht!« erzählte er lachend.»Man möchte meinen, daß er einen Harem voll Frauen und ein Dutzend Mütter hat, denn alle Augenblicke wird entweder die Frau oder die Mutter krank und stirbt, und da muß er heimreisen – natürlich reisen immer einige meiner Sachen mit ihm, aber es wäre ganz nutzlos, sich dagegen irgendwie aufzulehnen.Jeder Boy stiehlt, und zwar so viel er kann, aber er sieht glücklicherweise darauf, daß ihm dabei niemand ins Handwerk pfuscht.Auch nimmt er selten Geld, da könnte der Herr vielleicht doch grausam genug sein, ihn den Obrigkeiten zu übergeben, und ein Dieb wird in China furchtbar streng bestraft.«

Daran erinnerte ich mich, denn oft mußte der Mandarin sein Urteil sprechen. Manchmal wirft man ihn ins Gefängnis, wo er langsam zugrunde geht, oft macht man ihn um einen Kopf kürzer, oder man gibt ihm fünfundzwanzig oder mehr Stockstreiche auf die Fußsohlen, was auch nicht angenehm sein soll.

»Aber was ist der Boy gegen den Koch!« jammerte der lustige Herr.»Wohl kann er im letzten Augenblick und ohne vorherige Benachrichtigung ein vorzügliches Mahl auf den Tisch stellen, indem er die Fleischspeise bei Koch im Hause links und die Mehlspeise bei Koch im Hause rechts, und die Suppe bei Koch im Hause gegenüber und vielleicht das Gemüse bei Koch im Hause an der Ecke ausborgt, aber in die Küche durfte man nicht gehen, wenn man nicht vor Ekel vergehen wollte.Nicht genug, daß der Boden an und für sich an einen Stall weit eher als an einen Küchenboden erinnert,« sagte unser Erzähler, »und die Bänke und Tische vor Schmutz geradezu kleben, sind auch die Töpfe, Schüsseln, Teller und Pfannen oft mit einer dicken Rinde von angebranntem Fett, Gemüseüberresten oder dergleichen bedeckt, ohne daß es den Koch im geringsten stören würde.Wenn man ihm aber die Schüssel hinhält und sagt, daß dieselbe nicht rein sei, so dreht er sie erst ein paarmal gründlich in den eigenen schmutzigen Fingern hin und her und stellt sie dann ruhig mit dem Bemerken nieder, daß sie noch lange nicht schmutzig genug sei, um gewaschen werden zu müssen.«

Wie ich dabei an meine Mama dachte, sie, die über unsere alte und oft nicht allzu saubere Köchin die Hände über dem Kopf zusammenschlug – was würde sie wohl sagen, wenn sie einen chinesischen Koch im Hause hätte?

»Sie können sich denken, meine Damen,« fuhr Herr Leghorn fort, »daß so ein Koch auch mit der gleichen Reinlichkeit gekleidet ist, und daß er seine Hände nur dann wäscht, wenn er sie vor Schmutz nicht mehr frei bewegen kann.Gegen Messer, Gabeln und Löffel hat der Koch eine unüberwindliche Abneigung, denn wozu hat ihn eine weise Vorsehung mit zehn Fingern ausgestattet, wenn er sie nicht gebrauchen soll?Seine Pfote ist das einzig geltende Thermometer, seine Zunge der Löffel, mit dem er die Suppe herausschöpft und kostet.Er verdient sein Marktgeld ebensogut wie die drallen Köchinnen in Europas Großstädten, indem er das billigste einkauft und die höchsten Preise anrechnet, oder indem er vom Gewicht zurückbehält oder es sammelt, bis wieder ein Päckchen zusammengekommen ist, das er dem Herrn dann als neueingekauft überreichen und anrechnen kann.«

Die Damen und ich beklagten den armen Herrn Leghorn sehr, aber er lachte nur und meinte, daß er ja bald aus dem ver.......Loch fortkommen werde und ihm dieser Gedanke ein Trost sei.

»Und mein Wäschermann oder Waschmann, wie ich den Menschen wohl nennen muß,« ergänzte Herr Leghorn seinen Bericht, »das ist der fürchterlichste von ihnen allen. Er leiht meine Hemden und meine übrige Unterwäsche minderbemittelten Menschenkindern und bringt sie mir dann sehr schön zusammengefaltet wieder, so daß man die Löcher auf den ersten Blick gar nicht wahrnimmt. Wirft man ihm aber so einen gemachten Schaden auch vor, so sagt er nur: »Nichti ichi, seini Waschi dem haben so gemachi. «

Wir lachten alle – der gute Chinese redete sich auf das Präparat aus, das er verwendete, um die Wäsche rein zu bekommen.

Noch eine geraume Weile dauerte das Gespräch fort, und erst beim Abschied fragten mich die drei, wie ich selbst nach China gekommen wäre.Einige Sekunden lang zögerte ich – ich wußte, was mein Geständnis bedeuten würde –, aber dann sagte ich mit Entschlossenheit:

»Ich bin die Frau Ming Tses, des Sohnes des hiesigen Bankdirektors!«

Jedes Lächeln, jedes Wohlwollen verschwand aus den Gesichtern der drei Besucher, die über eine Stunde lang so vertraulich mit mir geplaudert hatten.Man muß im Orient gelebt haben, um zu verstehen, was es bedeutet, sich mit einem Eingeborenen vermählt zu haben.Man ist Paria, »one has lost caste«, wie die Engländer sagen, und kann nicht mehr in seine eigene Gesellschaft zurückkehren. Der Mann wird von seinen Angehörigen angefeindet, die Europäerin aber, die es gewagt hat, einen Bund fürs Leben mit einem Asiaten zu schließen, ist für immer aus dem Kreise ihresgleichen ausgestoßen. Sie hat das Heiligste – ihre eigene Rasse – verraten, und unversöhnlich stellt sich ihr Geschlecht ihr gegenüber. Mit einem leichten Kopfnicken verschwanden die drei Gäste und ich blieb zurück, vermieden und geächtet wie ein Aussatzkranker.


Neujahr, welches in China einen Monat später als in Europa anbricht, war nun vor der Tür. Die Amtssiegel und alles Amtspapier war versiegelt worden und durfte erst nach den Neujahrsfeierlichkeiten wieder gebraucht werden, alle Wohnungen wurden gründlich gereinigt, und selbst in der elendesten Kulihütte, wo nur ein schmutziges Loch mit einigen Decken und Kisten das ganze Hausgerät bildete, wurde mit Wasser gewüstet wie nie sonst. Haus und Menschen mußten rein sein, wenn die Jahreswende mit ihrem Segen sich näherte. Von allen Haustüren hingen rote Papierstreifen mit »Fu« in großen Zeichen, was »Glück« bedeutet. Um diese Zeit müssen alle Schulden bezahlt werden, und wehe dem Unglücklichen, der nicht imstande ist, es zu tun. Da kommen die Gläubiger und legen Beschlag auf sein Haus und lassen, was dem Chinesen schrecklicher dünkt, in der Neujahrsnacht die Haustür offen stehen, durch die alle bösen Geister und Dämone in das Haus eindringen und sich dort niederlassen, den Bewohnern allerlei Unglück mitbringend. Am Neujahrsmorgen erhält jedes Kind zwei neue Winter- und zwei neue Sommerkleider, und jeder ältere Bruder muß dem jüngeren ebenfalls ein Geschenk machen, während dieser wieder an die noch jüngeren Familienmitglieder, wie z. B. an seine Neffen, ein Geschenk weitergehen lassen muß. Alle Bekannten gehen in ihren besten Kleidern zu allen Verwandten und allen Bekannten, so daß alle Menschen vom ärmsten bis zum reichsten auf der Gasse anzutreffen sind.

Dies ist auch die beste Zeit zum Drachenfliegen, und Li Bai war ganz selig, weil wir zwei wunderschöne Seidendrachen hatten – der eine davon stellte ein Haus, der andere eine riesige Schlange vor –, die am Abend und an den folgenden Tagen steigen sollten.

Es ist mir oft aufgefallen, wie sehr die Chinesen und auch die Japaner an den allereinfachsten, ja an geradezu kindlichen Vergnügungen und Spielen ihre allergrößte Freude finden.Selbst der ehrwürdige Mandarin, der täglich viele hunderttausend Mark durch seine Hände gleiten ließ und dessen Lippen oft ein strenges Urteil über einen Verbrecher aussprachen, selbst er freute sich über den Anblick des Drachen, als dieser stolz in die Lüfte flog, und Li Bai war so eifrig, daß er sich kaum Zeit zum Essen gab.Wirklich alte Chinesen, die ihre Urgroßenkel bei sich hatten, sahen zu den Drachen auf und freuten sich über den Fall des einen und den Flug des anderen wie muntere Schuljungen und erinnerten mich auch an die erregten Zuschauer bei einem europäischen Pferderennen oder einer Regatta.

Selbst die chinesische Bühne, die wirklich für unsere Begriffe sehr langweilig und unschön ist, und bei der die Phantasie des Zuschauers fast alles Fehlende ersetzen muß, erfreut mit ihren fast kindlichen Darstellungen die Chinesen. Frauen als Schauspielerinnen gibt es nicht, und die jungen bartlosen Chinesen ersetzen ganz gut das fehlende Geschlecht, aber die lärmenden Musikanten und die übereinfache Bühnenausstattung macht jeden Theatergang uns Europäern eher zu einer Folter als zu einem Vergnügen.

Unserer Musik und unserer Bühne sind dagegen die Orientalen ebenso feindlich gestimmt. Ihnen erscheint unsere Musik ebenso tonlos und unschön wie uns die ihrige, und unser Theater interessiert sie nicht. In Berlin hat mich ein junger Japaner in die Oper begleitet, mich aber schon vor Beginn der Vorstellung gebeten, freundlichst zu entschuldigen, wenn er gleich einschlafen würde, und das tat er auch, bevor die göttlichsten Arien zwei Minuten lang das Haus erfüllt hatten. Er schlief still und diskret – nicht etwa mit tiefem Schnarchen, wie es eine charakteristische Eigenschaft der meisten Europäer ist –, aber er schlief fest und ruhig, bis der Vorhang fiel und das erste Stück ausgespielt war. Im zweiten Stücke wechselte die Szene ununterbrochen, da ein frecher Räuber verfolgt wurde, und das gefiel meinem orientalischen Freunde so gut, daß er gar nicht mehr an das Einschlafen dachte, sondern lebhaft mitlachte, sobald die Polizei dem Flüchtling nahekam oder er ihnen entwich. Das Mittelmäßigere vom künstlerischen Standpunkt, aber das dem kindlichen Gemüte Näherliegende erfreut sich des vollen Beifalls des fernen Asiaten. Indier dagegen lieben das Mystische, das Erhabene.

Trotz der starken Kälte standen wir den größten Teil des Tages auf der Straße, um die unzähligen Drachen steigen zu sehen, von denen einige wie ein Haus, andere wie Tiere, andere wie große Blumen aussahen, und die ebenso, wie in Nizza die blumenbekränzten Wagen beim Blumenkorso, Anlaß zu Prahlerei gaben; denn so ein Seidendrachen kann oft sehr kostspielig sein.

Am lebhaftesten ging es gegen Abend zu.Da erschütterten Knallerbsen das Trommelfell, Stimmen schwirrten durcheinander, Raketen flogen in die Luft, rote Bänder und Papierstreifen wurden geschwenkt, Musikanten schlugen mit bewundernswerter Ausdauer und Unerschrockenheit auf die Trommeln, andere Berufsgenossen stießen in die schrillen Trompeten, Kinder rannten einem zwischen die Beine und schrien aus vollen Lungen, Feuerwerke wurden abgebrannt und überall wohlriechende Holzarten in Brand gesetzt.Das einzig Hübsche an dem Ganzen schienen mir die unzähligen Lampions, die um alle Häuser befestigt waren und dem Beschauer auch aus jedem Hause entgegenleuchteten.Sie hatten verschiedene Farben, doch wurde hellrot bevorzugt, und die meisten hatten »Glück« darauf geschrieben.

Auch für den Magen war gut gesorgt worden. Berge von Kuchen aller Art standen bereit, und meine kleinen gelben Nichtchen und Neffen leisteten in der Unterbringung dieser Ware Unglaubliches, indessen bemerkte ich mit Bedauern, daß sich die Nichten erst dem »Kuchentroge« nähern durften, nachdem die gnädigen großen Brüder abgespeist hatten.

Es mochte etwa Mitte Februar sein.Li Bai war vierzehn Tage abwesend gewesen, und wenn ich auch in der furchtbaren Kälte nicht zur Bank gehen durfte, fühlte ich mich doch nicht so verlassen, als ich gefürchtet hatte, denn der Mandarin schickte mir die Maschine in meine Wohnung, und so konnte ich den ganzen Tag lang auf ihr herumklappern – zuerst um Geschäftsbriefe zu verfassen und sodann um Briefe an Jenny zu schreiben und dem Doktor für seinen Brief zu danken.

Er hatte von einer Auflösung der Verlobung nichts hören wollen und dankte mir in warmen Worten, mich seiner und Jennys so freundlich angenommen zu haben, bat mich, sein Heim immer als das meine anzusehen und teilte mir mit, daß Jenny schon Ende Januar seine Gattin werden würde.

Den Brief erhielt ich verspätet, da man mir in der Abwesenheit meines Gatten nie Briefe aushändigte und mir auch nicht gestattete, irgendwelche abzusenden, so lange Li Bai nicht in Tientsin war. Trotzdem gelang es mir hie und da ihre Wachsamkeit zu täuschen und es schien mir fast, als ob der Mandarin mir selbst dazu verhelfen wollte, wenigstens war er es, der mich immer gegen die Ränke seiner rechtmäßigen Frau zu schützen verstand.

Sie ließ mich wenigstens einmal die Woche durch ihre Schwiegertochter fragen – oder fragte wohl manchmal auch selbst –, ob ich von den Göttern verlassen wäre oder ob ich auf etwas Herrliches Aussicht zu hoffen hätte.

Nun hatte ich gegen meine Ueberzeugung schon mehrmals gesagt, daß mich die Götter nicht mochten und ich nichts zu hoffen hatte, nun aber war ein solches Schweigen nicht länger möglich.Wie weit ich meine Kleider auch sein ließ, sie verschwiegen meinen Zustand nicht länger, und als daher Li Bai heimkehrte, teilte ich ihm mit, daß er in wenigen Monaten Vater sein würde.

Wie groß die Liebe der Chinesen für Kinder ist!Wir waren uns schon ganz fremd geworden, Li Bai und ich, und ich wußte, daß er es mit der ehelichen Treue gar nicht so genau nahm, wie streng die Strafen für so ein Vergehen auch seien.Der Ehebruch wird eigentlich immer nur bei der Frau gestraft, der ihr Gatte, falls er sie bei der Tat ertappt, den Kopf abschneiden darf, um ihn zusammen mit dem Kopfe des Liebhabers zum Magistrat zu bringen, wo er für diese tugendhafte Tat nicht nur freigesprochen, sondern noch belobt wird.Jetzt flammte in ihm plötzlich etwas von alter Zuneigung auf, und er wurde wieder genau so aufmerksam wie vorher – in mancher Hinsicht zärtlicher, als er es je gewesen.

Auch meine gelbe Schwiegermama setzte ein bedeutend freundlicheres Gesicht auf, schickte besondere Speisen zu mir, sorgte doppelt für meine Bequemlichkeit und erteilte Li Bai allerlei gute Ratschläge. Der Zauberer wurde geholt um auszurechnen, an welchem Tage der neue Weltbürger seinen Einzug halten würde, und aller denkbarer Hokuspokus wurde getrieben, was ich ruhig geschehen ließ, nur eins verlangte ich: Ich wollte rechtzeitig in das englische Spital gebracht werden, um dort nach unserer Art gepflegt zu werden, da mir der Gedanke, dann von Chinesinnen umgeben zu sein, ganz unerträglich war. Da ich Li Bais Versprechen kaum traute, wandte ich mich direkt an den Mandarin, der gegen eine Uebersiedlung in das Krankenhaus war, mir aber gelobte, eine »Nurse« oder Pflegerin von dort aufzunehmen und den europäischen Arzt zu verständigen, und mehr konnte ich nicht erwarten.

So weit weg von der Heimat, unter so ganz veränderten Verhältnissen sollte ich einem Wesen das Leben geben? Ich würde nun auf immer an Li Bai gebunden sein – auf immer, denn ist in China die Scheidung leicht, wenn man keine Kinder hat, so wird sie geradezu unmöglich, wenn Nachkommen da sind. Wohl könnte ich in einem anderen Hause wohnen, mich aber nie von China entfernen, da die Regierung nur höchst ungern gestattet, daß irgendein Untertan das Reich verläßt. Nun war ich auf immer verdammt, in diesem lieblosen Lande zu verweilen, aber Li Bais neuerwachte Zärtlichkeit und jenes Glücksgefühl, das jede Mutter auch unter den traurigsten Umständen durchströmt, brachte Freude auch in meine freudlose Existenz im Reiche der himmlischen Mitte.

Die Silberkette wurde schon gekauft, die man dem kleinen Weltbürger (wenn es ein Sohn sein sollte) umgeben würde, die er sein Leben lang in Erinnerung an seine Mutter trägt und die am Hochzeitstage mit einer goldenen vertauscht wird.Für Mädchen trifft man keine Vorbereitungen – Mädchen zählen nicht –, und während ein Sohn mit einem Edelsteine verglichen wird, beschreibt man ein Mädchen als wertlosen Ziegelstein.Die guten Chinesen vergessen, daß ohne Ziegelsteine keine Edelsteine in China wären.

Jeden Abend zauberte Li Bai zu meiner Unterhaltung herum und setzte geheimnisvolle Mienen auf, sooft er sich mir näherte oder um mich herumging.

»Was tust du, Li Bai?« fragte ich lachend.

»Ich zaubere, damit du einen Knaben bekommst und nicht etwa ein Mädchen,« erwiderte er ganz überzeugt.

»Wie er wohl aussehen wird?« meinte ich nachdenklich.»Am Ende ist es ein Ausbund der Häßlichkeit.«

»Mein Sohn? « fragte Li Bai hocherstaunt. »Ich habe ihn gemacht,« setzte er stolz hinzu, und damit hatte er jede Zumutung über sekundären Erfolg zurückgewiesen. Sein Sohn konnte nur ein Prachtwerk sein. Wie ich lachte.

Die angenehmen, heiteren Stunden waren zurückgekehrt. Mußte ich jetzt auch stillsitzen, so tat doch Li Bai viel, um mich zu unterhalten und fügte sich sehr oft meinen Wünschen da, wo er es vorher nie getan hätte. Leider dauerte dies nur etwa einen Monat, dann trat ein alter chinesischer Brauch trennend zwischen uns.

Eines Tages merkte ich, daß Li Bais Bett entfernt wurde.Ich war unbeschreiblich erstaunt und öffnete meine Augen so weit es ging, indem ich vergeblich versuchte, den Grund dieses Gebarens zu erfahren.

Meine Schwiegermutter legte ihren Arm um mich – wohl um mich zu beruhigen, aber nervös, wie ich war, begann ich laut zu weinen, und endlich kam Li Bai und versicherte mir, daß wir nach chinesischem Brauche nicht länger zusammen wohnen dürften, da es dem Sprößling schaden könnte.

Wie ich mich wehrte, so mutterseelenallein gelassen zu werden, wie oftmal ich unter Tränen Li Bai bat, meine europäische Abstammung in Betracht zu ziehen, wie zärtlich forderte ich ihn auf, meinen Bitten nachzugeben und einen eigenen Haushalt zu gründen, wo ich nicht unausgesetzt von seiner Familie verfolgt werden würde.– Umsonst!Li Bai küßte mich, versprach alles mögliche und – verließ noch am selben Tage Tientsin, um in Geschäftsreisen oder angeblichen Geschäftsreisen einige Wochen fern zu bleiben.

Gerade um diese Zeit verträgt eine Frau am wenigsten das Alleinsein. Was Wunder, daß ich Tag und Nacht weinte, da ich immer stärker unter dem Heimweh litt, und als der Mandarin mich eine Woche nach Li Bais Abreise sah, war ich so mager geworden und sah so schlecht aus, daß er den Sohn sofort zurückkehren ließ – vielleicht weniger um meine Pein zu vermindern, als aus Furcht, es könnte dem künftigen Träger des Namens Ming Tse schaden oder seine Ankunft gar vereiteln. Genug! Eine Woche später wohnte Li Bai trotz aller chinesischen Sitten wieder mit mir unter einem Dache.

Der Frühling war ins Land gezogen und alle die Zwergbäumchen in dem großen Garten waren in Blüte, die Brücken leuchteten in ihrem zarten Weiß und die Sonne spiegelte sich funkelnd in den zahllosen kleinen Bassins, die sehr geschmackvoll angelegt waren.Schlanke orientalische Bäume standen im Hintergrund der Parkanlagen und warfen ihren Schatten über einen Weiher, über den auch eine zartgeschwungene Holzbogenbrücke führte, und der, wie gering auch sein Durchmesser war, doch eine beträchtliche Tiefe besaß und den Kindern im Sommer als Schwimmplatz diente.

Unter diesen hohen Bäumen verträumte ich manche Stunde mit einem Buche oder mit einer der kleinen Nichtchen an meiner Seite, die in eintönigen Reimen, halb singend, halb sprechend, ihre Schulaufgaben aufsagte.In der Familie des Mandarins studierten auch die Mädchen, wenngleich die Knaben nicht damit einverstanden waren.

Alles was die Kinder können und wissen mußten, wurde auswendig gelernt und gesungen. Nichts Geisttötenderes als so ein chinesischer Unterricht, wo die Kinder von acht Uhr früh bis zum Sonnenuntergang in der Schule weilen mußten, wo man sie zuerst das Zeichen ordentlich zu schreiben lehrte, dann dessen Aussprache, hierauf die Bedeutung des Wortes und endlich seinen Wert im Satze. So wurde langsam der ganze Konfuzius auswendig gelernt, der allerdings die wichtigsten sittlichen Gesetze enthält, über Rechtswissenschaft und die Pflicht von Königen spricht, die genauen Zeremonien für jeden wichtigen Moment im Leben vorschreibt, über chinesische Geschichte teilweise Aufklärung gibt, aber über die augenblicklich notwendig gewordenen Kenntnisse, wie allgemeine Geographie, Physik, Geometrie usw. gar keine Aufschlüsse erteilt, den Schüler nie zum Denken anregt. So stellt dieser Unterricht eigentlich nur ein mechanisches Auswendiglernen dar. Dennoch wird an diesem Plane auch für die großen literarischen Wettprüfungen festgehalten.

Der arme Chung-Fu, der Jenny immer noch nicht vergessen und mir ebensowenig verziehen hatte, kam im April zur Prüfung und erzählte bei seiner Heimkehr von den mitgemachten Leiden.

Die Prüfungsgebäude in Peking umfassen eine ganze eigene Stadt und jedem Kandidaten wird eine eigene Zelle angewiesen, in der ein Brett an der linken Wand das Bett und den Stuhl vorstellt und ein Brett, etwas höher an der rechten Wand befestigt, den Tisch ersetzen muß. Jeder Kandidat muß Kerzen und Lebensmittel mitbringen, aber weder Bücher noch Papier dürfen mitgenommen werden. Jeder Kandidat wird bei seinen Namen aufgerufen, erhält eine Nummer, muß sich von Kopf bis zu den Füßen genau untersuchen lassen, damit auch nicht ein Stück Papier unerlaubterweise eingeschwärzt wird, bekommt hierauf Papier, Tusche und einen Pinsel und darf an dem Kanzler und dem Vizekanzler vorbei in das Reich der Prüfungsräumlichkeiten wandern.

Sind erst alle Kandidaten aufgerufen worden und in ihre Zellen verschwunden, so wird die Pforte feierlich versiegelt, einige Räucherstäbchen verbrannt, damit die bösen Geister draußen bleiben müssen, und sobald dies geschehen, kann niemand mehr hinein und niemand mehr heraus.Drei Fragen werden gestellt und drei Tage und drei Nächte arbeiten die Kandidaten ununterbrochen, dann muß die Arbeit abgegeben werden; ein Ruhetag entsteht und dann kommen wieder drei Fragen und drei Tage Beantwortungszeit und wieder ein Ruhetag und sodann wiederholt sich dieser Vorgang zum dritten und letztem Male.

Da sollen Männer bis über achtzig Jahre und schwache Jünglinge von zwanzig Jahren zu sehen sein, und bei dieser furchtbaren Anstrengung ist es kein Wunder, daß viele junge Leute irrsinnig werden oder sterben. Aber auch dann wird die Tür nicht geöffnet, sondern man wirft die Leichen einfach über die Mauer zu der vor ihr harrenden Menge.

Chung-Fu, der über seinen Erfolg sehr stolz war, erklärte den Tod der unglücklichen Kandidaten indessen auf ganz andere und abergläubische Weise.Die Geister, d.h.die uns stetig umgebenden bösen Geister dürfen nicht zulassen, daß eine böse Handlung ungestraft dahingeht und ein Bösewicht ein Mandarin wird.Hat ein Kandidat daher einen Mord auf dem Gewissen, so schleicht der Geist des ruhelosen Ermordeten im letzten Augenblick vor der Torschließung in die Prüfungsstadt hinein und sucht in den Zellen nach seinem Mörder.Trifft er ihn endlich, so verwandelt sich das gelbe Licht der Kerze langsam in ein grünes Licht und der Kandidat weiß, daß der Geist gekommen ist, um ihn zu erwürgen.Kein Schreien, keine Flucht kann ihn retten.Der Geist erwürgt ihn auf der Stelle und der Tote wird über die Mauer geworfen.


An einem herrlichen Maiabende sah ich meine älteste Nichte, ein Mädchen von etwa vierzehn Jahren, unter den Bäumen liegen und schlafen und wunderte mich, als ich sah, daß Li Bais Mutter auf sie zueilte und sie mit sich fort in das Haus zog, scheinbar böse, die arme Kleine dort gefunden zu haben.

»Warum wollte deine Mutter nicht, daß Pe-Niu unter den Bäumen schlafen soll? Es ist ja so schön dort draußen und hier ist es schwül und drückend! « fragte ich.

»Pe-Niu ist ein Mädchen und ein junges Mädchen darf nicht im Freien unter Bäumen einschlafen,« belehrte mich Li Bai.»Tut sie es, so kommt ein Vampir, und dann hat sie ein Kind, das weder ein Mensch noch ein Tier ist,« fügte er ganz ernsthaft hinzu.

»Li Bai, das glaubst du doch nicht?« rief ich verwundert, aber mein kleiner Chinese schüttelte nur den Kopf und meinte, daß ich nicht lachen sollte über Sachen, die ich nicht verstünde.

An Dämone und Vampire glauben Chinesen, wie die Katholiken an die Heiligen.

XVI.

Barnets smil og glaede söd
er som livet uten død.
Barnesmil og barnetro
bygger over døden bro.
Norwegisches Lied.

XVI.

Langsam verstrichen die Wochen, sie glitten fast unbemerkt an mir vorbei, die ich leidend auf den Kissen meines Lagers lag und die Zeit herbeisehnte, wo ein kleines süßes Wesen die gefürchtete Einsamkeit auf immer von mir nehmen würde.Li Bai war aufmerksam gegen mich, aber wie verschieden von den Männern des fernen Okzidents!Wie unempfindlich gegen die körperlichen Leiden seiner Mitmenschen, wie verständnislos gegen jedes tiefere seelische Weh.Er konnte kindlich heiter oder männlich brutal sein – Mann in des Wortes schönster Bedeutung war er nie.

Jenny schrieb mir oft. Sie war mit dem Doktor verheiratet und im zehnten Himmel oder so klang es wenigstens aus ihren Zeilen heraus. Ich gönnte dem Kinde sein reines Glück, aber ich vermochte nicht ganz die Frage zu unterdrücken, warum Jennys Geschick so viel, viel lichter als das meinige sein durfte, warum ich immer nur Pech, sie immer nur Glück hatte? Hunderterlei philosophische Betrachtungen ließen sich daran knüpfen und doch wollte mich keine Antwort befriedigen. Wieviel glücklicher als wir Menschen waren die elenden Raupen, auf die wir doch nur mit Verachtung herabsahen! Jede hatte dieselben Lebensberechtigungen und genoß dieselben Freuden wie ihre Nachbarin, kein weniger vorteilhaftes Aeußere schnitt ihre Glückschancen jäh ab, keine Gewissensbisse konnten eine Raupenexistenz trüben, keine leidenschaftlichen Wünsche ein Raupeninneres erzittern machen, es sei denn der Wunsch, ein saftiges Blatt zu verspeisen. Hatte eine Raupe einen Baum voll solcher Blätter gefunden, konnten die anderen gewiß sein, auch auf denselben Baum klettern zu dürfen. Mein ewig forschender Geist versuchte und versuchte immer vergeblich das Rätsel unseres Seins zu lösen. Li Bai litt nie unter dieserlei Gedanken, ihm war alles gleich, wenn er nur hübsche Kleider, Geld, genug Speise und Trank und – Mädchen hatte, alles andere hatte keine Bedeutung für ihn.

Nur ein Ereignis aus dieser Zeit steht klar vor meinen Blicken.Unser Nachbar, Herr Liang Tse, wurde plötzlich zu seinen Vorfahren einberufen, und da er nicht nur ein alter Nachbar, sondern auch ein guter Freund des Mandarins war, nahm unsere ganze Familie regen Anteil an dem Unglücksfall.Unter reger Teilnahme darf man nun freilich nicht unser europäisches Mitleid verstehen – so etwas kennt ein Chinese nicht –, wohl aber ein Sichwichtigmachen und ununterbrochenes Hin- und Herlaufen zwischen unserem Hause und dem Sterbehause der Liang Tses.

Sieben Tage lang darf nämlich daheim nichts gekocht werden, und daher bringen alle Nachbarn die nötigen Lebensmittel in das Sterbehaus, die aber nicht mit den Speisestäbchen, sondern nur mit den Fingern in den Mund befördert werden. Wenn man bedenkt, daß die Vorschrift ebenfalls befiehlt, daß man sich in der Zeit weder waschen noch die Haare schneiden, noch die Nägel verkürzen soll, so wird man leicht begreifen, wie unendlich appetitlich so eine Hand am siebenten Tag aussieht – für europäische Begriffe natürlich, denn ein Chinese sieht nicht den Schmutz, sondern lediglich die große Trauer der Hinterbliebenen in einer solchen Handlung.

Die weiblichen Familienmitglieder müssen Tag und Nacht bei der Leiche bleiben, und alle müssen so laut als möglich ihre Klagen gegen den Himmel (oder die Zimmerdecke) schreien.Wer das Sterbezimmer betritt, muß auf Händen und Füßen herankriechen, um den Toten die gebührende Ehre zu zeigen.Parte werden auf braunem Papier geschrieben und durch die Neffen oder Enkel des Dahingeschiedenen in die Häuser aller Bekannten geschickt, aber man erwartet auch eine gewisse Belohnung für solche Aufmerksamkeit.Die so mit Parte bedachten Personen geben meist den Kindern einige Geldstücke, die beitragen, die hohen Begräbniskosten zu decken, denn so eine Beerdigung eines Hausvaters ist eine sehr kostspielige Sache in einem Lande, wo man den Toten viel mehr Ehren zollt als den Lebendigen.

Der Sarg allein, der mindestens so groß wie ein kleines Zimmer ist und aus dem dicksten Mahagoniholz sein muß, kostet sehr viel Geld und wird oft schon viele Jahre vor seinem Ableben von dem Manne selbst gekauft und nach und nach abgezahlt. In der Mitte dieser großen Kiste ist eine Oeffnung, groß genug, den Toten bequem ruhen zu lassen, rund um diese Vertiefung aber befinden sich allerlei Fächer, in die alle Kleider, Schmuckgegenstände usw. des Verstorbenen gelegt werden und die ihn in das Grab hinabbegleiten. Damit ist aber lange nicht genügt. Täglich müssen eine große Anzahl Räucherkerzen und wohlriechendes Holz verbrannt werden und der Tote darf nicht früher der Erde übergeben werden, bevor der Zauberer nicht den richtigen Platz gefunden hat, was oft recht viele Tage in Anspruch nimmt; ferner muß die Familie weiße Trauerkleider haben, die sie jedoch schon nach der Beerdigung gegen dunkelblaue (Halbtrauer) umtauschen können. Alle roten Papierstreifen im Hause müssen entfernt und diese durch weiße ersetzt werden, was alles viel Geld kostet; aber am meisten kostet wohl der lange Trauerzug.

Die Leiche wird mit einer Schicht Baumwolle umgeben und sodann der Sarg sorgfältig verklebt, damit auch nicht die allergeringste Spalte bleibt. Ist dies geschehen, so trägt man den Sarg, den zwanzig Männer kaum heben können, über die Schwelle und der Trauerzug setzt sich in Bewegung. Voran tragen Chinesen allerlei Nachahmungen von Dienern und Dienerinnen auf Papier, wie auch von Tieren, Hausgeräten aller Art, von Kleidungsstücken und ähnlichen Sachen, die alle auf dem Grabe feierlich verbrannt werden und mit denen sich der Geist in der nächsten Welt seinen neuen Haushalt gründet. Papierene Gold- und Silbermünzen werden auf den Weg gestreut, damit die Dämone über sie herfallen und den Toten unbeachtet lassen. Viele Räucherkerzen und Papiere werden unterwegs und auf dem Grabe verbrannt, und die Leidtragenden stimmen die ohrenzerreißendsten Klagegesänge an. Die Söhne des Dahingeschiedenen müssen immer von zwei Chinesen unter den Armen gehalten werden, weil man annimmt, daß sie vor lauter Gram und Kummer nicht gehen können, aber in Wirklichkeit ist ihr Schmerz keineswegs allzu groß. Wirft sich gar ein Sohn in den Staub, um darin herumzurollen und Jammerlaute auszustoßen, so muß der Zug stehenbleiben, bis der Mustersohn sich wieder gefaßt hat, und so eine öffentliche Kummerbezeugung wird ihm sehr hoch angerechnet. Bei den Chinesen mehr als bei allen anderen Völkern gilt überall und vor allem der Schein.

Am Grabe angekommen, das fast durchwegs die Form eines Hufeisens hat und das immer bewacht ist, da die großen mitversenkten Schätze die Banditen sehr anlocken, werden alle nachgeahmten Tiere, Diener, Hausgeräte usw. verbrannt, Räucherkerzen ebenfalls, das Jammergeschrei der Leidtragenden muß meilenweit hörbar sein und dann erst darf man an den Rückmarsch denken. Fahren darf niemand und da oft ein Beerdigungsplatz viele Stunden weit entfernt liegt, kommen die Leidtragenden mehr tot als lebendig heim. Aber was tut's? Sie haben ihre Pflicht erfüllt und ein schönes Beispiel kindlicher Liebe und Hingebung gegeben.

Hundert Tage nach dem Sterbetag des Vaters wird seine Namenstafel dem Hausaltare eingefügt, vor dem der jetzige Hausherr täglich seinen Kotau machen muß, und damit ist die Geschichte erledigt.Nein, nicht ganz!Denn drei Jahre lang sollen die Kinder Trauer tragen und in der Zeit dürfen sie keine Ehen schließen.Man beschränkt die Trauerzeit jedoch heutzutage meist auf zweieinviertel Jahr, was noch immerhin sehr lange für unsere Begriffe ist.

Li Bai, der sich vor dem Tode sehr fürchtete und mir oft sagte, daß er lieber ein blinder lahmer Krüppel sein würde als sterben zu wollen, war durch dieses Ereignis sehr niedergedrückt und bekam einen bösen Anfall nach dem anderen, was natürlich in Grausamkeiten, wenn nicht in Werken, so doch in Worten, mir gegenüber sein Ende nahm.Auch war er von beispiellosem Aberglauben.

»Wenn eine Katze auf dem Dache oberhalb des Sterbezimmers ist und ein Hund unter das Bett des Toten kriecht, so kann der Tote aufstehen und dann tötet er alle, die er erreichen kann,« sagte er ganz überzeugt. »Und daher muß immer ein Wächter das Dach bewachen und die Leute unten das Eindringen eines Hundes verhüten,« er rückte mir ganz ängstlich näher, »wenn es aber doch geschehen sollte, daß der Tote aufstehen kann, so muß man ihm einen Stock in die Hand geben, da faßt er ihn gleich mit beiden Armen und fällt um und dann kann man sich ihm ruhig nähern und ihn zurück auf das Bett legen. «

Auch wußte er von Toten zu erzählen, die im Sarge laut geschrien hätten, von Dämonen, die allerlei Unfug getrieben, weil man nicht Räucherkerzen genug abgebrannt hatte, von Vampiren, die sich auf den Körper ihres vorigen Feindes stürzten und sein Blut langsam aussaugten und vieles dieser Art.

Grausame Geschichten gefallen dem chinesischen Temperament, grausame Strafen zu ersinnen ist ihnen ein seelischer Hochgenuß. Li Bai konnte ein wahres Vergnügen daran finden, mir trotz meines Zustandes von Enthauptungen chinesischer Verbrecher zu erzählen und die furchtbare Methode des langsamen Verbrennens einer Gattenmörderin zu beschreiben, der man ein chemisches Präparat in Gestalt einer Stange in den Magen stößt, das sie langsam innerlich verbrennt. Drei Tage und drei Nächte leidet das Opfer die furchtbarsten Schmerzen, bevor endlich die Erlösung eintritt. Die Folter wird noch allgemein angewendet und die verschiedenen Todesarten sind allzu grausam, als daß ich sie hier beschreiben wollte. Sie scheinen den Chinesen keineswegs zu hart und eins ist gewiß: Sie empfinden körperlichen Schmerz nicht wie wir. Sie ertragen Foltern, die kein weißer Mann aushalten könnte und sie verstümmeln absichtlich ihre Glieder, brennen ohne Klagen ihre eigenen Augen aus oder schlagen sich mit einem Stein Beulen auf den Kopf, um sich zum Bettlerfache auszubilden. Sie gehen an menschlichem Elend mitleidslos vorüber, vielleicht weil oftmalige Hungersnot, Seuchen und Ueberschwemmungen sie unempfindlicher gemacht haben, sie sind heldenmütig im Ertragen ihrer Leiden und Krankheiten, welche sie meist dem Einflusse böser Geister zuschreiben, und sie sind kaltblütiger als wir. Ihre Moral ist nicht unsere Moral, ihre Neigungen stimmen nicht mit den unsrigen überein. Sie sind fesselnde Bekanntschaften und schlechte Verwandte; als Diener sind sie schweigsam, fleißig, genügsam und ausdauernd, sehr schmutzig, unredlich und verlogen. In ihrer Heimat sind sie ebenso gut, wie wir in der unsrigen, aber wie wir nicht zu ihnen passen, passen auch sie nicht zu uns. Der Mond hat gewisse Vorzüge, seine Schönheit und seinen Wert, aber er muß am Nachthimmel sich zeigen. Vereint am Himmel können Sonne und Mond nicht stehen, ohne sich gegenseitig allzusehr zu benachteiligen. Westen ist Westen und Osten ist Osten, sagt Kipling, aber die beiden können sich nie treffen. – Nein, nie treffen in gleichen Anschauungen, gleichen Grundsätzen, gleichem Ziele zusteuernd.

Täglich trat bei Li Bai mehr und mehr der materialistische Zug seines Wesens hervor, die Kopfschmerzen, die, wie wir endlich entdeckten, von dem unsinnigen Brauch herrührten, sich eine schlanke Mitte zu schaffen und zu erhalten, indem er einen breiten Ledergürtel straff über den Magen spannte, nahmen immer zu und seine Wutausbrüche wurden nicht geringer. Er sollte immer studieren, um im Herbst nach Europa zurückzukehren – der einzige Hoffnungsstrahl, der das grausige Dunkel meines Lebens erhellte – und dies wollte er nicht. Er liebte das tatenlose Dahinleben, das Zeitvergeuden und die oberflächlichen Gespräche, die er mit seinen Freunden pflegen konnte, und wollte auch, zu seiner Ehre sei es gesagt, seiner Mutter gern als Schutz gegen die Konkubinen seines Vaters zurückbleiben, aber der Mandarin übte seine ganze Strenge aus und ich tat, was ich vermochte, um ihm den Uebergang vom Nichtstun zur Arbeit so leicht als möglich zu gestalten.

Ein heißer, wolkenloser Junitag.Li Bai stand vor dem großen Spiegel in der Ecke unseres Schlafgemachs und rasierte sich – etwas, das er nie zu tun versäumte, da er sich glühend einen Bart wünschte, der aber bei den Chinesen selten vor dem Alter von vierzig Jahren sichtbar wird und daher, weil ein Zeichen weiseren Alters, immer Ehrfurcht einflößt; aber obschon er mir oft beteuerte, daß sich schon eine Unzahl Haare zeigten, muß ich gestehen, daß ich nie den Schatten auch nur eines einzigen kleinen Härleins entdecken konnte und sein Gesicht so glatt wie die reinste Haut eines jungen Mädchens war.

Ich fühlte mich elend – elend – und doch hatte der Zauberer mir den Storchbesuch erst für Anfang August angekündigt, aber jedenfalls hatten die ununterbrochenen kleineren und größeren Aufregungen das ihre beigetragen. Ich schrie auf und sank bewußtlos zurück.

Als ich die Augen wieder aufschlug, stand Li Bai über mich gebeugt da und fragte, ob ich mich nicht ganz wohl fühlte.

»Li Bai,« sagte ich bittend, indem ich meine letzten Kräfte aufraffte, »sende jemand in das englische Hospital.«

Einen Augenblick schien es, als wollte er Einwendungen machen, dann aber mußte mein Aussehen wohl jeden Zweifel getilgt haben, denn er machte sich daran auszugehen.Bevor er das Zimmer verließ, trat er noch einmal an mein Lager, wo ich schweißbedeckt und stöhnend lag.

»Mutter wird bald kommen und die ›Nurse‹ auch,« sagte er, »und mach' dir nichts daraus, wenn du ein paar Stunden große Schmerzen hast.Das ist immer so.« Damit nahm er seinen Fächer und verschwand.

Alles, was später geschah, schwebt mir eher als schrecklicher Traum vor, nicht als Wirklichkeit. Ich litt furchtbar und, wie es mir deuchte, eine Ewigkeit, aber es wird, wie Li Bai so anteilnehmend sagte, nur einige Stunden gewesen sein. Man gab mir Chloroform und so oft ich meine Augen öffnete, neigte eine freundliche blonde Krankenpflegerin sich über mich, die mir zulächelte und mir meine Lage nach Kräften erleichterte und ein dicker Doktor sprach ermutigende Worte – dann – dann – sank ich in langes, langes Vergessen zurück, aus dem ich nach Fieber und Leiden erst drei Wochen später erwachte.

Die Sonne warf durch eine Spalte einen einzelnen Sonnenstrahl über den dunklen Teppich, als ich wieder zu vollem Bewußtsein erwachte.Mir gegenüber saß die Nurse und arbeitete an einer Stickerei.Sie stand sofort auf und trat an das Lager.

»Wieder wohl und frisch?« lächelte sie.

»Nein,« entgegnete ich matt, »nur noch nicht tot.« Das Wort »frisch« erschien mir der schrecklichste Hohn, war ich doch so schwach, daß es mich Ueberwindung kostete, den Arm zu heben.

»Jetzt wird es schnell gehen und Sie werden zu Kräften gelangen,« sagte sie liebenswürdig.

»Was ist mit mir geschehen?« fragte ich und erst dann kam volles Verständnis für alles Vorgefallene zurück.

Die Nurse lächelte geheimnisvoll und eine Flut von neuem Empfinden erwachte mit diesem Lächeln in mir.

»Mein Baby?« sagte ich und fühlte, wie jeder Blutstropfen mir zum Herzen strömte.

»Ein Knabe!« sagte die Krankenpflegerin.»Er ist bei seiner Großmama.«

Gerade da kam Li Bai. Er neigte sich über mich mit derselben gleichmütigen Höflichkeit, die ich so gut an ihm kannte – ohne ein Wort des Bedauerns, daß ich so sehr gelitten – um seinetwillen gelitten – hatte, ohne Zärtlichkeit dafür, daß er nun den erwünschten Erben hatte. Ich hatte meine Schuldigkeit als Weibchen getan – damit war alles erledigt.

»Siehst du,« sagte er stolz und triumphierend, »daß ich recht hatte!Ich habe dir einen reizenden Sohn gegeben mit meinen Zaubereien, und du kannst mir dankbar sein.«

Also die Dankesschuld war meinerseits??!– Das beweist, daß jedes Ding auf Erden von zwei Gesichtspunkten aus gesehen werden kann und man nur zu wählen braucht, bis man den passenden findet.

Frau Ming Tse kam nun auch und in viele Seidentücher gehüllt, brachte sie meinen kleinen Sohn, der ohne mein Wissen »Sing« genannt worden war, dessen Horoskop aufgestellt wurde und der schon die Silberkette um den Körper gewickelt trug, die ich allein ihm hätte geben sollen.In der Tat, ich war Mutter nur in zweiter Linie in den Augen aller dieser Menschen.

Mit zitternden Händen griff ich begierig nach dem Bündel, das meinen Schatz enthielt, und nun fielen meine Augen zum erstenmal auf das Wesen, um dessentwillen ich so viel leiden mußte, das mir im fernen Land ein Trost und eine Stütze werden sollte, ein Band vielleicht, das mir helfen würde, wo alles andere mißlang, die Seele und das Herz meines chinesischen Gatten zu finden oder zu erwecken.

Vor mir lag ein kleines Geschöpfchen mit weißer Gesichtsfarbe aber ganz chinesischen Zügen. Die scharf geschlitzten Augen, die starken Backenknochen und die flache Nase ohne richtige Nasenwurzel, Li Bais etwas breite Lippen und sein straffes schwarzes Haar – ja, Klein-Sing war ganz und gar Chinese, trotz der Hautfarbe – das einzige, was er von seiner Mutter hatte. Würde seine Seele mir ähneln oder kalt und gefühllos wie die Herzen der Chinesen sein? Jetzt hoben sich langsam die wimpernlosen Lider und ein Paar nachtschwarze Aeuglein sahen mich verwundert an, dann verzog sich das kleine Schnäuzchen meines Sohnes und Erben, und ein lautes »Ä-ä« wurde hörbar. Ich hatte meine Mitmenschen, mein Vaterland, Li Bai und alles vergessen. Ich dachte nur an das kleine Wesen, das hier in meinen Armen lag und das so wunderschön – oder so schien es mir – »A-ä« sagte.

Die Schwiegermutter streckte ihre knochigen Hände nach der süßen Last aus, aber ich preßte Sing fester an mich.Er war mein, ganz mein eigen und niemand sollte ihn berühren.

Li Bai neigte sich über mich.

»Du wirst müde sein, Käthe, laß' Sing meiner Mutter.Sie hat ihn so lieb.«

»Ich habe ihn auch lieb,« erwiderte ich und meine Augen funkelten, »und Sing ist mein Kind! «

»Gewiß,« sagte er finster, »aber auch das meine. « Damit ergriff er das Bündel, das mir so viel Freude bereitete, wenn es mir auch nicht wie mein Kind vorkam, dieser kleine, komische Chinese, den ich doch so innig liebhaben wollte und so gern zu behalten wünschte, ergriff es und reichte es seiner Mutter, die damit verschwand.

Ich legte mein Haupt müde auf die Kissen und fühlte, wie eine Träne nach der anderen über meine eingefallenen Wangen rann.Die Nurse neigte sich tröstend über mich.Li Bai war verschwunden.

»Ich hole es später wieder,« sagte sie leise, trocknete meine Tränen ab und gab mir etwas zu trinken, woraufhin ich einschlief und die Gegenwart vergaß.

Mama hatte sehr beglückt geschrieben – Li Bai hatte ihr die Geburt meines Sohnes telegraphisch mitgeteilt – und Jenny bat mich, ihr den gelben Neffen recht bald nach Europa zur Beschauung zu bringen.Sie war sehr glücklich in ihrer Ehe und lebte mit dem Doktor von allen Tanten fern in Mainz am schönen Rhein.Auch sie erwartete einen Erben und freute sich auf das kommende Glück.Ach ja, sie würde ihr Kind auch für sich behalten dürfen!

In der Nacht durfte ich Sing bei mir haben, und das Kind weinte nie.Früh am Morgen kam die gefürchtete Schwiegermutter und trug es davon, und den Rest des Tages verbrachten wir damit, das Kind uns gegenseitig wegzustehlen.War Li Bai daheim, so war seine gleichförmige Bemerkung:

»Sie ist die Mutter – wir sind nicht aus der Erde gekrochen, sondern eine Mutter hat uns geboren; wir schulden ihr Achtung und Gehorsam, wenn sie also Sing haben will, mußt du ihr das Kind lassen. «

Manchmal lehnte ich mich dagegen auf, manchmal ließ ich meinen Schatz klaglos davontragen und die Mutter, die gewiß sah, daß ich unter der Trennung mit Sing litt, tat was sie konnte, um ihn mir oft wegzunehmen.

Es mochten seit des Kleinen Geburt zehn Wochen vergangen sein, als der Mandarin, der seinen Enkel auch manchmal auf die Arme nahm (denn Kinder liebt man überall in China), zu mir kam, um mir einige wichtige Briefe zur Beantwortung zu überreichen.Er fand mich nicht wie sonst lesend oder studierend – mein einziger Trost in meiner Verlassenheit –, sondern auf dem Lager ausgestreckt, bitterlich weinend vor.Obschon er nicht danach aussah, als ob er zu den Personen gehören würde, die Herzensergüsse mit Verständnis entgegennehmen, vertraute ich ihm auf seine Frage nach meinem Kummer doch an, daß wir in Europa gewöhnt sind, unsere Kinder selbst zu haben, und daß ich mich so unendlich verlassen fühlte, da Li Bai immer bei seiner Mutter, bei seinen Brüdern oder bei Freunden in Tientsin weilte, ich meinerseits durch meine Ehe abgeschnitten von den Gefährten meiner Rasse sei und so nicht mehr wisse, wie ich dieses Leben in tiefster Einsamkeit aushalten solle.

Ich hatte erwartet, den Mandarin böse zu sehen, hatte selbst gedacht, daß er mir geradeswegs sagen würde, ich könnte ja zu dem Mittel greifen, zu dem so viele unglückliche Chinesinnen greifen mußten – nämlich dem Wasser, durch das der Rauch der langen chinesischen Pfeifen gezogen ist und das, wie bitter es auch schmecken soll, doch unfehlbar zu einer Reisekarte in die Ewigkeit verhilft.

Nichts Derartiges geschah.Ernst und nachdenklich ruhten seine Augen auf mir, und nach einer kleinen Weile sagte er, wenn auch scheinbar ohne Mitgefühl in seiner Stimme:

»Li Bai ist zu sehr Chinese, als daß er einer Europäerin einen guten Gatten machen könnte!« meinte er kopfschüttelnd.

»Glauben Sie,« fragte er nach einer Pause, »daß Li Bai je das Doktorat machen wird?«

»Nein!« sagte ich aufrichtig.»Er hat keinen Ehrgeiz, keinen Fleiß, kein Interesse.Alle meine Bemühungen waren erfolglos!« gestand ich geknickt.

»Dies war nicht Ihre Schuld!« entgegnete er.»Sie sollen nicht mehr so lange allein sein!« sagte er sodann und ging.

Von da an durfte ich Sing den ganzen Vormittag behalten und am Abend brachte man ihn mir schon früh, aber ich beobachtete, daß der Blick meiner Schwiegermutter unendlich feindselig auf mir ruhte, wenn sie auch nicht mehr wagte, Sing so lange wie früher von mir fernzuhalten. Ein leises Grauen beschlich mich oft, wenn ich sie so lautlos herbeischleichen sah und ihre ölige Stimme vernahm, die immer einige höfliche Erwiderungen auf meinen tiefen Kotau hatte. Aeußerlich sprach nichts – es sei denn das unmerkliche Zucken um die Augen und Mundwinkel – von ihrer Abneigung gegen mich, aber eine Art sechster Sinn ließen mich diese ihre Gefühle wissen, als ob sie es mir offen gesagt hätte.

Mit Hilfe Li Bais gelang es ihr noch an manchen Tagen, den Kleinen fortzutragen, aber sie wagte nicht mehr sich zu weigern, ihn auszuliefern, wenn ich nach einiger Zeit mit Kotau und höflicher Bitte meinen Sprößling abholte.Sie reichte ihn mir mit den öligsten Worten und dem verbindlichsten Lächeln, aber die wimperlosen Lider senkten sich über die Augen, und die kleinen knochigen Hände ballten sich, als wollten sie einen unsichtbaren Feind erwürgen.

Und Wochen kamen und gingen.Sie brachten mich immer näher dem Ereignis, das für meine Zukunft entscheidend werden sollte.


A.  F.  Seebacher