Buddenbrooks: Verfall einer Familie

Buddenbrooks: Verfall einer Familie
Author: Thomas Mann
Pages: 1,506,721 Pages
Audio Length: 20 hr 55 min
Languages: de

Summary

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Siebentes Kapitel

Therese Weichbrodt war bucklig, sie war so bucklig, daß sie nicht viel höher war als ein Tisch.Sie war 41 Jahre alt, aber da sie niemals Gewicht auf äußere Wohlgefälligkeit gelegt hatte, so ging sie gekleidet wie eine Dame von 60 bis 70 Jahren.Auf ihren grauen, gepolsterten Ohrlocken saß eine Haube mit grünen Bändern, die über die schmalen Kinderschultern hinabfielen, und nie war an ihrem kümmerlichen schwarzen Kleidchen etwas wie Putz gesehen worden …ausgenommen die große, ovale Brosche, auf der in Porzellanmalerei das Bild ihrer Mutter prangte.

Das kleine Fräulein Weichbrodt besaß kluge und scharfe braune Augen, eine leichtgebogene Nase und schmale Lippen, die sie aufs entschiedenste zusammenpressen konnte … Überhaupt lag in ihrer geringen Figur und allen ihren Bewegungen ein Nachdruck, der zwar possierlich, aber durchaus respektgebietend wirkte. Dazu trug in hohem Grade auch ihre Sprache bei. Sie sprach mit lebhafter und stoßweiser Bewegung des Unterkiefers und einem schnellen, eindringlichen Kopfschütteln, exakt und dialektfrei, klar, bestimmt und mit sorgfältiger Betonung jedes Konsonanten. Den Klang der Vokale aber übertrieb sie sogar in einer Weise, daß sie z. B. nicht »Butterkruke«, sondern »Botter«- oder gar »Batterkruke« sprach und ihr eigensinnig kläffendes Hündchen nicht »Bobby«, sondern »Babby« rief. Wenn sie zu einer Schülerin sagte: »Kind, sei nich–t sa domm! « und zweimal dabei ganz kurz mit dem gekrümmten Zeigefinger auf den Tisch pochte, so machte dies Eindruck, das ist sicher; und wenn Mademoiselle Popinet, die Französin, sich beim Kaffee mit allzuviel Zucker bediente, so hatte Fräulein Weichbrodt eine Art, die Zimmerdecke zu betrachten, mit einer Hand auf dem Tischtuch Klavier zu spielen und zu sagen: »Ich wörde die ganze Zockerböchse nehmen! « daß Mademoiselle Popinet heftig errötete …

Als Kind – mein Gott, wie winzig mußte sie als Kind gewesen sein! – hatte Therese Weichbrodt sich selber »Sesemi« genannt, und diese Änderung ihres Vornamens hatte sie beibehalten, indem sie den besseren und tüchtigeren Schülerinnen, Internen sowohl wie Externen, gestattete, sie so zu nennen. »Nenne mich ›Sesemi‹, Kind«, sagte sie gleich am ersten Tage zu Tony Buddenbrook, indem sie sie kurz und mit einem leicht knallenden Geräusch auf die Stirn küßte …»Ich höre es gern.« Ihre ältere Schwester Madame Kethelsen aber hieß Nelly.

Madame Kethelsen, die ungefähr 48 Jahre zählte, war von ihrem verstorbenen Gatten mittellos im Leben zurückgelassen worden, bewohnte bei ihrer Schwester im oberen Stockwerk eine kleine Stube und beteiligte sich an der allgemeinen Tafel.Sie kleidete sich ähnlich wie Sesemi, war aber im Gegensatz zu ihr außerordentlich lang; an ihren hageren Handgelenken trug sie wollene Pulswärmer.Sie war nicht Lehrerin, sie wußte nichts von Strenge, und in Harmlosigkeit und stillem Frohsinn bestand ihr Wesen.Hatte ein Zögling Fräulein Weichbrodts einen Streich vollführt, so stieß sie darüber ein gutmütiges und vor Herzlichkeit beinahe klagendes Lachen aus, bis Sesemi auf den Tisch pochte und so eindringlich »Nelly!« rief, daß es wie »Nally« klang; dann verstummte sie eingeschüchtert.

Madame Kethelsen gehorchte ihrer jüngeren Schwester, sie ließ sich von ihr ausschelten wie ein Kind, und die Sache war die, daß Sesemi sie herzlich verachtete.Therese Weichbrodt war ein belesenes, ja beinahe gelehrtes Mädchen und hatte sich ihren Kinderglauben, ihre positive Religiosität und die Zuversicht, dort drüben einst für ihr schwieriges und glanzloses Leben entschädigt zu werden, in ernstlichen kleinen Kämpfen bewahren müssen.Madame Kethelsen dagegen war ungelehrt, unschuldig und einfältigen Gemütes.»Die gute Nelly!« sagte Sesemi.»Mein Gott, sie ist ein Kind, sie ist niemals auf einen Zweifel gestoßen, sie hat niemals einen Kampf zu bestehen gehabt, sie ist glücklich …« In solchen Worten lag ebensoviel Geringschätzung wie Neid, und das war ein schwacher, wenn auch verzeihlicher Charakterzug Sesemis.

Das hochgelegene Erdgeschoß des ziegelroten Vorstadthäuschens, das von einem nett gehaltenen Garten umgeben war, wurde von den Unterrichtsräumen und dem Speisezimmer eingenommen, während sich im oberen Stockwerk und auch im Bodenraum die Schlafzimmer befanden. Die Zöglinge Fräulein Weichbrodts waren nicht zahlreich, denn die Pension nahm nur größere Mädchen auf und besaß, auch für externe Schülerinnen, nur die drei ersten Schulklassen; auch sah Sesemi mit Strenge darauf, daß nur Töchter aus zweifellos vornehmen Familien in ihr Haus kamen …Tony Buddenbrook ward, wie angedeutet, mit Zärtlichkeit empfangen; ja, zum Abendessen hatte Therese »Bischof« gemacht, einen roten und süßen Punsch, der kalt getrunken ward, und auf den sie sich mit Meisterschaft verstand …»Noch ein bißchen Beschaf?« fragte sie mit herzlichem Kopfschütteln …und das klang so appetitlich, daß niemand widerstand.

Fräulein Weichbrodt saß auf zwei Sofakissen am oberen Ende der Tafel und beherrschte die Mahlzeit mit Tatkraft und Umsicht; sie richtete ihr verwachsenes Körperchen ganz stramm empor, pochte wachsam auf den Tisch, rief »Nally!« und »Babby!« und demütigte Mlle.Popinet mit einem Blicke, wenn diese im Begriffe stand, sich alles Gelée des kalten Kalbsbratens anzueignen.Tony hatte ihren Platz inmitten zweier anderer Pensionärinnen erhalten.Zwischen Armgard von Schilling, einer blonden und stämmigen Gutsbesitzerstochter aus Mecklenburg, und Gerda Arnoldsen, die in Amsterdam zu Hause war, einer eleganten und fremdartigen Erscheinung mit schwerem, dunkelrotem Haar, nahe beieinander liegenden braunen Augen und einem weißen, schönen, ein wenig hochmütigen Gesicht.Ihr gegenüber plapperte die Französin, die aussah wie eine Negerin und ungeheure goldene Ohrringe trug.Am unteren Tischende saß mit säuerlichem Lächeln die hagere Engländerin Miß Brown, die gleichfalls im Hause wohnte.

Man befreundete sich rasch mit Hilfe von Sesemis Bischof. Mlle. Popinet hatte in der letzten Nacht wieder Alpdrücken gehabt, erzählte sie … Ah, quelle horreur! Sie pflegte dann »Ülfen, Ülfen! Dieben, Dieben! « zu rufen, daß alles aus dem Bette sprang. Ferner stellte sich heraus, daß Gerda Arnoldsen nicht Klavier spielte, wie die anderen, sondern Geige, und daß Papa – ihre Mutter war nicht mehr am Leben – ihr eine echte Stradivari versprochen habe. Tony war unmusikalisch; die meisten Buddenbrooks und alle Krögers waren es. Sie konnte nicht einmal die Choräle erkennen, die in der Marienkirche gespielt wurden … Oh, die Orgel in der Nieuwe Kerk zu Amsterdam hatte eine vox humana, eine Menschenstimme, die prachtvoll klang!– Armgard von Schilling erzählte von den Kühen zu Hause.

Diese Armgard hatte vom ersten Augenblicke an den größten Eindruck auf Tony gemacht, und zwar als das erste adelige Mädchen, mit dem sie in Berührung kam.Von Schilling zu heißen, welch ein Glück!Die Eltern hatten das schönste alte Haus der Stadt, und die Großeltern waren vornehme Leute; aber sie hießen doch ganz einfach »Buddenbrook« und »Kröger«, und das war außerordentlich schade.Die Enkelin des noblen Lebrecht Kröger erglühte in Bewunderung für Armgards Adel, und im geheimen dachte sie manchmal, daß für sie selbst dieses prächtige »von« eigentlich viel besser gepaßt haben würde, – denn Armgard, mein Gott, sie wußte ihr Glück nicht einmal zu schätzen, sie ging umher mit ihrem dicken Zopf, ihren gutmütigen blauen Augen und ihrer breiten mecklenburgischen Aussprache und dachte gar nicht daran; sie war durchaus nicht vornehm, sie machte nicht den geringsten Anspruch darauf, sie hatte keinen Sinn für Vornehmheit.Dieses Wort »vornehm« saß erstaunlich fest in Tonys Köpfchen, und sie wandte es mit anerkennendem Nachdruck auf Gerda Arnoldsen an.

Gerda war ein wenig apart und hatte etwas Fremdes und Ausländisches an sich; sie liebte es, ihr prachtvolles rotes Haar trotz Sesemis Einspruch etwas auffallend zu frisieren, und viele fanden es albern, daß sie die Geige spiele – wobei zu bemerken ist, daß »albern« einen sehr harten Ausdruck der Verurteilung bedeutete.Darin jedoch mußte man mit Tony übereinstimmen, daß Gerda Arnoldsen ein vornehmes Mädchen war.Ihre für ihr Alter voll entwickelte Erscheinung, ihre Gewohnheiten, die Dinge, die sie besaß, alles war vornehm: Zum Beispiel die elfenbeinerne Toiletteneinrichtung aus Paris, die Tony besonders zu schätzen wußte, da sich auch bei ihr zu Hause allerlei Gegenstände vorfanden, die ihre Eltern oder Großeltern aus Paris mitgebracht hatten und sehr wert hielten.

Die drei jungen Mädchen schlossen rasch einen Freundschaftsbund, sie gehörten der gleichen Unterrichtsklasse an und bewohnten gemeinsam den größten der Schlafräume im oberen Stockwerke. Welche amüsanten und behaglichen Stunden waren das, wenn man um zehn Uhr zur Ruhe ging und beim Auskleiden plauderte – mit halber Stimme nur, denn nebenan begann Mlle.Popinet von Dieben zu träumen …Sie schlief zusammen mit der kleinen Eva Ewers, einer Hamburgerin, deren Vater, ein Kunstschwärmer und Sammler, sich in München angesiedelt hatte.

Die braungestreiften Rouleaus waren geschlossen, die niedrige, rotverhüllte Lampe brannte auf dem Tische, ein leiser Duft nach Veilchen und frischer Wäsche erfüllte das Zimmer und eine gemächliche, gedämpfte Stimmung von Müdigkeit, Sorglosigkeit und Träumerei.

»Mein Gott«, sagte Armgard, die halb ausgekleidet auf dem Rande ihres Bettes saß, »wie geläufig Doktor Neumann spricht!Er kommt in die Klasse, stellt sich an den Tisch und spricht von Racine …«

»Er hat eine schöne, hohe Stirn«, bemerkte Gerda, während sie sich vor dem Spiegel zwischen den beiden Fenstern beim Schein zweier Kerzen die Haare kämmte.

»Ja!« sagte Armgard rasch.

»Und du hast auch nur von ihm angefangen, um das zu hören zu bekommen, Armgard, denn du blickst ihn beständig mit deinen blauen Augen an, als ob … «

»Liebst du ihn? « fragte Tony. »Mein Schuhband geht einfach nicht auf, bitte Gerda … so! nun! Liebst du ihn, Armgard? Heirate ihn doch; es ist eine sehr gute Partie, er wird Professor am Gymnasium werden. «

»Gott, ihr seid scheußlich.Ich liebe ihn gar nicht.Ich werde sicherlich keinen Lehrer heiraten, sondern einen Landmann …«

»Einen Adligen?« Tony ließ den Strumpf sinken, den sie in der Hand hielt, und blickte gedankenvoll in Armgards Gesicht.

»Das weiß ich noch nicht; aber ein großes Gut muß er haben …Ach, wie freue ich mich darauf, Kinder!Ich werde um fünf Uhr aufstehen und wirtschaften …« Sie zog die Bettdecke über sich und sah träumend zum Plafond empor.

»Vor ihrem geistigen Auge stehen fünfhundert Kühe«, sprach Gerda und betrachtete ihre Freundin im Spiegel.

Tony war noch nicht fertig; aber sie ließ ihren Kopf im voraus aufs Kissen sinken, verschränkte die Hände im Nacken und betrachtete auch ihrerseits sinnend die Zimmerdecke.

»Ich werde natürlich einen Kaufmann heiraten«, sagte sie.»Er muß recht viel Geld haben, damit wir uns vornehm einrichten können; das bin ich meiner Familie und der Firma schuldig«, fügte sie ernsthaft hinzu.»Ja, ihr sollt sehn, das werde ich schon machen.«

Gerda hatte ihre Schlaffrisur beendet und putzte ihre breiten, weißen Zähne, wobei sie sich ihres elfenbeinernen Handspiegels bediente.

»Ich werde wahrscheinlich gar nicht heiraten«, sagte sie ein wenig mühsam, denn das Pfefferminzpulver behinderte sie. »Ich sehe nicht ein, warum. Ich habe gar keine Lust dazu. Ich gehe nach Amsterdam und spiele Duos mit Papa und lebe später bei meiner verheirateten Schwester … «

»Wie schade!« rief Tony lebhaft.»Nein, wie schade, Gerda!Du solltest dich hier verheiraten und immer hier bleiben …Höre mal, du solltest zum Beispiel einen von meinen Brüdern heiraten …«

»Den mit der großen Nase?« fragte Gerda und gähnte mit einem kleinen zierlichen und nachlässigen Seufzer, wobei sie den Handspiegel vor den Mund hielt.

»Oder den anderen, das ist ja gleichgültig …Gott, wie ihr euch einrichten würdet!Jakobs müßte es machen, Tapezierer Jakobs in der Fischstraße, er hat einen vornehmen Geschmack.Ich würde täglich zu Besuch kommen …«

Aber dann ließ sich Mlle.Popinets Stimme vernehmen:

»Ah!voyons, mesdames! zu Bette, s'il vous plaît!Sie werden sich heute abend nicht mehr verheiraten!«

Die Sonntage aber und die Ferien verlebte Tony in der Mengstraße oder draußen bei den Großeltern. Welch Glück, wenn am Ostersonntag gutes Wetter war und man die Eier und Marzipanhasen in dem ungeheuren Krögerschen Garten suchen konnte! Welche Sommerferien an der See, wenn man im Kurhause wohnte, an der Table d'hote speiste, badete und Esel ritt! Auch wurden in einigen Jahren, wenn der Konsul Geschäfte gemacht, Reisen von größerer Ausdehnung unternommen.Aber welch Weihnachtsfest, vor allem, mit drei Bescherungen: zu Hause, bei den Großeltern und bei Sesemi, woselbst an diesem Abend der Bischof in Strömen floß …Am herrlichsten aber war dennoch der Weihnachtsabend zu Hause, denn der Konsul hielt darauf, daß das heilige Christfest mit Weihe, Glanz und Stimmung begangen ward.Wenn man in tiefer Feierlichkeit im Landschaftszimmer versammelt war, während die Dienstboten und allerlei alte und arme Leute, denen der Konsul die blauroten Hände drückte, sich in der Säulenhalle drängten, dann erscholl dort draußen vierstimmiger Gesang, den die Chorknaben der Marienkirche vollführten, und man bekam Herzklopfen, so festlich war es.Dann, während schon durch die Spalten der hohen, weißen Flügeltür der Tannenduft drang, verlas die Konsulin aus der alten Familienbibel mit den ungeheuerlichen Buchstaben langsam das Weihnachtskapitel, und war draußen noch ein Gesang verklungen, so stimmte man »O Tannebaum« an, während man sich in feierlichem Umzuge durch die Säulenhalle in den Saal begab, den weiten Saal mit den Statuen in der Tapete, wo der mit weißen Lilien geschmückte Baum flimmernd, leuchtend und duftend zur Decke ragte und die Geschenktafel von den Fenstern bis zur Tür reichte.Aber draußen, auf dem hartgefrorenen Schnee der Straßen musizierten die italienischen Drehorgelmänner, und vom Marktplatz scholl der Trubel des Weihnachtsmarktes herüber.Außer der kleinen Klara beteiligten sich auch die Kinder an dem späten Abendessen in der Säulenhalle, bei dem es Karpfen und gefüllten Puter in übergewaltigen Mengen gab …

Hier ist zu erwähnen, daß Tony Buddenbrook in diesen Jahren zwei mecklenburgische Güter besuchte.Ein paar Sommerwochen verlebte sie mit ihrer Freundin Armgard auf dem Besitztum des Herrn von Schilling, das Travemünde gegenüber jenseits der Bucht an der Küste lag.Und ein anderes Mal reiste sie mit Cousine Thilda dorthin, wo Herr Bernhard Buddenbrook Inspektor war.Dieses Gut hieß »Ungnade« und brachte nicht einen Heller ein; aber als Ferienaufenthalt war es trotzdem nicht zu verachten.

So wanderten die Jahre vorbei, und es war, alles in allem, eine glückliche Jugendzeit, die Tony verlebte.

Dritter Teil

Erstes Kapitel

Kurz nach fünf Uhr, eines Juni-Nachmittages, saß man vor dem »Portale« im Garten, woselbst man Kaffee getrunken hatte.Drinnen in dem weißgetünchten Raum des Gartenhauses mit dem hohen Wandspiegel, dessen Fläche mit flatternden Vögeln bemalt war, und den beiden lackierten Flügeltüren im Hintergrunde, die genau betrachtet gar keine Türen waren und nur gemalte Klinken besaßen, war die Luft zu warm und dumpfig, und man hatte die aus knorrigem, gebeiztem Holze leicht gearbeiteten Möbel hinausgestellt.

Im Halbkreise saßen der Konsul, seine Gattin, Tony, Tom und Klothilde um den runden gedeckten Tisch, auf dem das benutzte Service schimmerte, während Christian, ein wenig seitwärts, mit einem unglücklichen Gesichtsausdruck Ciceros zweite Catilinarische Rede präparierte.Der Konsul war mit seiner Zigarre und den »Anzeigen« beschäftigt.Die Konsulin hatte ihre Seidenstickerei sinken lassen und sah lächelnd der kleinen Klara zu, die mit Ida Jungmann auf dem Rasenplatze Veilchen suchte, denn es gab zuweilen Veilchen dort.Tony hatte den Kopf in beide Hände gestützt und las versunken in Hoffmanns »Serapionsbrüdern«, während Tom sie mit einem Grashalm ganz vorsichtig im Nacken kitzelte, was sie aus Klugheit aber durchaus nicht bemerkte.Und Klothilde, die mager und ältlich in ihrem geblümten Kattunkleide dasaß, las eine Erzählung, welche den Titel trug: »Blind, taub, stumm und dennoch glückselig«; zwischendurch schabte sie die Biskuitreste auf dem Tischtuche zusammen, worauf sie das Häufchen mit allen fünf Fingern ergriff und behutsam verzehrte.

Der Himmel, an dem unbeweglich ein paar weiße Wolken standen, begann langsam blasser zu werden. Das Stadtgärtchen lag mit symmetrisch angelegten Wegen und Beeten bunt und reinlich in der Nachmittagssonne.Der Duft der Reseden, die die Beete umsäumten, kam dann und wann durch die Luft daher.

»Na, Tom«, sagte der Konsul gutgelaunt und nahm die Zigarre aus dem Mund; »die Roggenangelegenheit mit van Henkdom & Comp., von der ich dir erzählte, arrangiert sich.«

»Was gibt er?« fragte Thomas interessiert und hörte auf, Tony zu plagen.

»Sechzig Taler für tausend Kilo …nicht übel, wie?«

»Das ist vorzüglich!« Tom wußte, daß dies ein sehr gutes Geschäft war.

»Tony, deine Haltung ist nicht comme il faut«, bemerkte die Konsulin, worauf Tony, ohne die Augen von ihrem Buche zu erheben, einen Ellbogen vom Tische nahm.

»Das schadet nichts«, sagte Tom.»Sie kann sitzen, wie sie will, sie bleibt immer Tony Buddenbrook.Thilda und sie sind unstreitig die Schönsten in der Familie.«

Klothilde war zum Sterben erstaunt.»Gott!Tom –?« machte sie, und es war unbegreiflich, wie lang sie diese kurzen Silben zu ziehen vermochte.Tony duldete schweigend, denn Tom war ihr überlegen, da half nichts; er würde wieder eine Antwort finden und die Lacher auf seiner Seite haben.Sie zog nur mit geöffneten Nasenflügeln heftig die Luft ein und hob die Schultern empor.Als aber die Konsulin von dem bevorstehenden Ball bei Konsul Huneus zu sprechen begann und etwas über neue Lackschuhe fallen ließ, nahm Tony auch den anderen Ellenbogen vom Tisch und zeigte sich lebhaft bei der Sache.

»Ihr redet und redet«, rief Christian kläglich, »und dies ist so fürchterlich schwer!Ich wollte, ich wäre auch Kaufmann –!«

»Ja, du willst jeden Tag etwas anderes«, sagte Tom.– Hierauf kam Anton über den Hof; er kam mit einer Karte auf dem Teebrett, und man sah ihm erwartungsvoll entgegen.

»Grünlich, Agent«, las der Konsul.»Aus Hamburg.Ein angenehmer, gut empfohlener Mann, ein Pastorssohn.Ich habe Geschäfte mit ihm.Es ist da eine Sache …Sage dem Herrn, Anton – es ist dir recht Bethsy?– er möge sich hierher bemühen …«

– Durch den Garten kam, Hut und Stock in derselben Hand, mit ziemlich kurzen Schritten und etwas vorgestrecktem Kopf, ein mittelgroßer Mann von etwa 32 Jahren in einem grüngelben, wolligen und langschößigen Anzug und grauen Zwirnhandschuhen. Sein Gesicht, unter dem hellblonden, spärlichen Haupthaar war rosig und lächelte; neben dem einen Nasenflügel aber befand sich eine auffällige Warze. Er trug Kinn und Oberlippe glattrasiert und ließ den Backenbart nach englischer Mode lang hinunterhängen; diese Favoris waren von ausgesprochen goldgelber Farbe. – Schon von weitem vollführte er mit seinem großen, hellgrauen Hut eine Gebärde der Ergebenheit …

Mit einem letzten, sehr langen Schritte trat er heran, indem er mit dem Oberkörper einen Halbkreis beschrieb und sich auf diese Weise vor allen verbeugte.

»Ich störe, ich trete in einen Familienkreis«, sprach er mit weicher Stimme und feiner Zurückhaltung.»Man hat gute Bücher zur Hand genommen, man plaudert …Ich muß um Verzeihung bitten!«

»Sie sind willkommen, mein werter Herr Grünlich!« sagte der Konsul, der sich, wie seine beiden Söhne, erhoben hatte und dem Gaste die Hand drückte.»Ich freue mich, Sie auch außerhalb des Kontors und im Kreise meiner Familie begrüßen zu können.Herr Grünlich, Bethsy, mein wackerer Geschäftsfreund …Meine Tochter Antonie …Meine Nichte Klothilde …Sie kennen Thomas bereits …Das ist mein zweiter Sohn, Christian, ein Gymnasiast.«

Herr Grünlich hatte wiederum auf jeden Namen mit einer Verbeugung geantwortet.

»Wie gesagt«, fuhr er fort, »ich habe nicht die Absicht, den Eindringling zu spielen …Ich komme in Geschäften, und wenn ich den Herrn Konsul ersuchen dürfte, einen Gang mit mir durch den Garten zu tun …«

Die Konsulin antwortete:

»Sie erweisen uns eine Liebenswürdigkeit, wenn Sie nicht sofort mit meinem Manne von Geschäften reden, sondern ein Weilchen mit unserer Gesellschaft fürlieb nehmen wollten.Nehmen Sie Platz!«

»Tausend Dank«, sagte Herr Grünlich bewegt. Hierauf ließ er sich auf dem Rande des Stuhles nieder, den Tom herbeigebracht hatte, setzte sich, Hut und Stock auf den Knien, zurecht, strich mit der Hand über seinen einen Backenbart und ließ ein Hüsteln vernehmen, das ungefähr klang wie: »Hä-ä-hm! « Dies alles machte den Eindruck, als wollte er sagen: »Das wäre die Einleitung. Was nun? «

Die Konsulin eröffnete den Hauptteil der Unterhaltung.

»Sie sind in Hamburg zu Hause?« fragte sie, indem sie den Kopf zur Seite neigte und ihre Arbeit im Schoße ruhen ließ.

»Allerdings, Frau Konsulin«, entgegnete Herr Grünlich mit einer neuen Verbeugung.»Ich habe meinen Wohnsitz in Hamburg, allein ich bin viel unterwegs, ich bin stark beschäftigt, mein Geschäft ist ein außerordentlich reges …hä-ä-hm, ja, das darf ich sagen.«

Die Konsulin zog die Brauen empor und machte eine Mundbewegung, als sagte sie mit respektvoller Betonung: »So?«

»Rastlose Tätigkeit ist für mich Lebensbedingung«, setzte Herr Grünlich halb zum Konsul gewendet hinzu, und er hüstelte aufs neue, als er den Blick bemerkte, den Fräulein Antonie auf ihm ruhen ließ, diesen kalten und musternden Blick, mit dem junge Mädchen fremde junge Herren messen, und dessen Ausdruck jeden Augenblick bereit scheint, in Verachtung überzugehen.

»Wir haben Verwandte in Hamburg«, bemerkte Tony, um etwas zu sagen.

»Die Duchamps«, erklärte der Konsul, »die Familie meiner seligen Mutter.«

»Oh, ich bin vollkommen orientiert!« beeilte sich Herr Grünlich zu erwidern.»Ich habe die Ehre, ein wenig bei den Herrschaften bekannt zu sein.Es sind ausgezeichnete Menschen insgesamt, Menschen von Herz und Geist, – hä-ä-hm.In der Tat, wenn in allen Familien ein Geist herrschte wie in dieser, so stünde es besser um die Welt.Hier findet man Gottesglaube, Mildherzigkeit, innige Frömmigkeit, kurz die wahre Christlichkeit, die mein Ideal ist; und damit verbinden diese Herrschaften eine edle Weltläufigkeit, eine Vornehmheit, eine glänzende Eleganz, Frau Konsulin, die mich persönlich nun einmal charmiert!«

Tony dachte: Woher kennt er meine Eltern? Er sagt ihnen, was sie hören wollen … Der Konsul aber sprach beifällig:

»Diese doppelte Geschmacksrichtung kleidet jeden Mann aufs beste.«

Und die Konsulin konnte nicht umhin, dem Gaste mit einem leisen Klirren des Armbandes die Hand zu reichen, deren Fläche sie in herzlicher Weise ganz weit herumdrehte.

»Sie reden mir aus der Seele, mein werter Herr Grünlich!« sagte sie.

Hierauf verbeugte sich Herr Grünlich, setzte sich zurecht, strich über seinen Backenbart und hüstelte, als wollte er sagen: »Fahren wir fort.«

Die Konsulin ließ ein paar Worte fallen über die für Herrn Grünlichs Vaterstadt so furchtbaren zweiundvierziger Maitage …»In der Tat«, bemerkte Herr Grünlich, »ein schweres Unglück, eine betrübende Heimsuchung, dieser Brand.Ein Schade von 135 Millionen, ja, das ist ziemlich genau berechnet.Übrigens bin ich meinerseits der Vorsehung zu hohem Danke verpflichtet …ich bin nicht im geringsten getroffen worden.Das Feuer wütete hauptsächlich in den Kirchspielen Sankt Petri und Nikolai …Welch reizender Garten«, unterbrach er sich, während er sich dankend mit einer Zigarre des Konsuls bediente, »– doch, für einen Stadtgarten ist er ungewöhnlich groß!Und welch farbiger Blumenflor …oh, mein Gott, ich gestehe meine Schwäche für Blumen und für die Natur im allgemeinen!Diese Klatschrosen dort drüben putzen ganz ungemein …«

Herr Grünlich lobte die vornehme Anlage des Hauses, er lobte die ganze Stadt überhaupt, er lobte auch die Zigarre des Konsuls und hatte für jeden ein liebenswürdiges Wort.

»Darf ich es wagen, mich nach Ihrer Lektüre zu erkundigen, Mademoiselle Antonie?« fragte er lächelnd.

Tony zog aus irgendeinem Grunde plötzlich die Brauen zusammen und antwortete ohne Herrn Grünlich anzublicken:

»Hoffmanns Serapionsbrüder.«

»In der Tat!Dieser Schriftsteller hat Hervorragendes geleistet«, bemerkte er.»Aber um Vergebung …ich vergaß den Namen Ihres zweiten Herrn Sohnes, Frau Konsulin.«

»Christian. «

»Ein schöner Name! Ich liebe, wenn ich das aussprechen darf« – und Herr Grünlich wandte sich wieder an den Hausherrn – »die Namen, welche schon an und für sich erkennen lassen, daß ihr Träger ein Christ ist. In Ihrer Familie ist, wie ich weiß, der Name Johann erblich … wer dächte dabei nicht an den Lieblingsjünger des Herrn. Ich zum Beispiel, wenn ich mir diese Bemerkung gestatten darf«, fuhr er mit Beredsamkeit fort, »heiße wie die meisten meiner Vorfahren Bendix, – ein Name, der ja nur als eine mundartliche Zusammenziehung von Benedikt zu betrachten ist. Und Sie lesen, Herr Buddenbrook? Ah, Cicero! Eine schwierige Lektüre, die Werke dieses großen römischen Redners. Quousque tandem, Catilina hä-ä-hm, ja, ich habe mein Latein gleichfalls noch nicht völlig vergessen! «

Der Konsul sagte:

»Ich habe, im Gegensatze zu meinem seligen Vater, immer meine Einwände gehabt gegen diese fortwährende Beschäftigung der jungen Köpfe mit dem Griechischen und Lateinischen.Es gibt so viele ernste und wichtige Dinge, die zur Vorbereitung auf das praktische Leben nötig sind …«

»Sie sprechen meine Meinung aus, Herr Konsul«, beeilte sich Herr Grünlich zu antworten, »bevor ich ihr Worte verleihen konnte! Eine schwierige und, wie ich hinzuzufügen vergaß, nicht unanfechtbare Lektüre. Von allem abgesehen, erinnere ich mich einiger direkt anstößiger Stellen in diesen Reden … «

Als eine Pause entstand, dachte Tony: Jetzt komme ich an die Reihe.Denn Herrn Grünlichs Blicke ruhten auf ihr.Und richtig, sie kam an die Reihe.Herr Grünlich nämlich schnellte plötzlich ein wenig auf seinem Sitze empor, machte eine kurze, krampfhafte und dennoch elegante Handbewegung nach der Seite der Konsulin und flüsterte heftig:

»Ich bitte Sie, Frau Konsulin, beachten Sie? – Ich beschwöre Sie, mein Fräulein«, unterbrach er sich laut, als ob Tony nur dies verstehen sollte, »bleiben Sie noch einen Moment in dieser Stellung …! – Beachten Sie«, fuhr er wieder flüsternd fort, »wie die Sonne in dem Haare Ihres Fräulein Tochter spielt? – Ich habe niemals schöneres Haar gesehen!« sprach er plötzlich ernst vor Entzücken in die Luft hinein, als ob er zu Gott oder seinem Herzen redete.

Die Konsulin lächelte wohlgefällig, der Konsul sagte: »Setzen Sie der Dirn keine Schwachheiten in den Kopf!« und Tony zog wiederum stumm die Brauen zusammen.Einige Minuten darauf erhob sich Herr Grünlich.

»Aber ich inkommodiere nicht länger, nein, bei Gott, Frau Konsulin, ich inkommodiere nicht länger!Ich kam in Geschäften …allein wer könnte widerstehen …Nun ruft die Tätigkeit!Wenn ich den Herrn Konsul ersuchen dürfte …«

»Ich brauche Sie nicht zu versichern«, sagte die Konsulin, »wie sehr es mich freuen würde, wenn Sie während der Dauer Ihres Aufenthaltes am Orte in unserem Hause vorlieb nehmen möchten …«

Herr Grünlich blieb einen Augenblick stumm vor Dankbarkeit.»Ich bin Ihnen von ganzer Seele verbunden, Frau Konsulin!« sagte er mit dem Ausdruck der Rührung.»Aber ich darf Ihre Liebenswürdigkeit nicht mißbrauchen.Ich bewohne ein paar Zimmer im Gasthause Stadt Hamburg …«

»Ein paar Zimmer«, dachte die Konsulin, und dies war es auch, was sie nach Herrn Grünlichs Absicht denken sollte.

»Jedenfalls«, beschloß sie, indem sie ihm noch einmal mit herzlicher Bewegung die Hand bot, »hoffe ich, daß wir uns nicht zum letzten Male gesehen haben.«

Herr Grünlich küßte der Konsulin die Hand, wartete einen Augenblick, daß auch Antonie ihm die ihrige reiche, was aber nicht geschah, beschrieb einen Halbkreis mit dem Oberkörper, trat einen großen Schritt zurück, verbeugte sich nochmals, setzte dann mit einem Schwunge und indem er das Haupt zurückwarf, seinen grauen Hut auf und schritt mit dem Konsul davon …

»Ein angenehmer Mann!« wiederholte der letztere, als er zu seiner Familie zurückkehrte und seinen Platz wieder einnahm.

»Ich finde ihn albern«, erlaubte sich Tony zu bemerken und zwar mit Nachdruck.

»Tony!Mein Gott!Was für ein Urteil!« rief die Konsulin ein wenig entrüstet.»Ein so christlicher junger Mann!«

»Ein so wohlerzogener und weltläufiger Mann! « ergänzte der Konsul. »Du weißt nicht, was du sagst. « – Es geschah manchmal, daß die Eltern in dieser Weise aus Höflichkeit den Standpunkt wechselten; dann waren sie desto sicherer, einig zu sein.

Christian zog seine große Nase in Falten und sagte:

»Wie wichtig er immer spricht!…Man plaudert!Wir plauderten gar nicht.Und Klatschrosen putzen ungemein!Manchmal tut er, als ob er ganz laut zu sich selbst spräche.Ich störe – ich muß um Verzeihung bitten!…Ich habe niemals schöneres Haar gesehen!…« Und Christian ahmte Herrn Grünlich so vortrefflich nach, daß selbst der Konsul lachen mußte.

»Ja, er macht sich allzu wichtig! « fing Tony wieder an. »Er sprach beständig von sich selbst! Sein Geschäft ist rege, er liebt die Natur, er bevorzugt die und die Namen, er heißt Bendix … Was geht uns das an, möchte ich wissen … Er sagt alles nur, um sich herauszustreichen! « rief sie plötzlich ganz wütend. »Er sagte dir, Mama, und dir, Papa, nur, was ihr gern hört, um sich bei euch einzuschmeicheln!«

»Das ist kein Vorwurf, Tony!« sagte der Konsul streng.»Man befindet sich in fremder Gesellschaft, zeigt sich von seiner besten Seite, setzt seine Worte und sucht zu gefallen – das ist klar …«

»Ich finde, er ist ein guter Mensch«, sagte Klothilde sanft und gedehnt, obgleich sie die einzige Person war, um die Herr Grünlich sich nicht im geringsten bekümmert hatte.Thomas enthielt sich des Urteils.

»Genug«, beschloß der Konsul, »er ist ein christlicher, tüchtiger, tätiger und feingebildeter Mann, und du, Tony, ein großes Mädchen von 18 oder nächstens 19 Jahren, gegen das er sich so artig und galant betragen hat, du solltest deine Tadelsucht bezähmen.Wir alle sind schwache Menschen, und du bist, verzeih mir, wahrlich die letzte, die einen Stein aufheben dürfte …Tom, an die Arbeit!«

Tony aber murmelte vor sich hin: »Ein goldgelber Backenbart!« und dabei zog sie die Brauen zusammen, wie sie es schon mehrere Male getan hatte.

Zweites Kapitel

»Wie aufrichtig betrübt war ich, mein Fräulein, Sie zu verfehlen!« sprach Herr Grünlich einige Tage später, als Tony, die von einem Ausgang zurückkehrte, an der Ecke der Breiten- und Mengstraße mit ihm zusammentraf.»Ich erlaubte mir, Ihrer Frau Mama meine Aufwartung zu machen, und ich vermißte Sie schmerzlich …Wie entzückt aber bin ich, Sie nun doch noch zu treffen!«

Fräulein Buddenbrook war stehengeblieben, da Herr Grünlich zu sprechen begann; aber ihre Augen, die sie halb geschlossen hatte und die plötzlich dunkel wurden, richteten sich nicht höher als auf Herrn Grünlichs Brust, und um ihren Mund lag das spöttische und vollkommen unbarmherzige Lächeln, mit dem ein junges Mädchen einen Mann mißt und verwirft …Ihre Lippen bewegten sich – was sollte sie antworten?Ha!es mußte ein Wort sein, das diesen Bendix Grünlich ein für allemal zurückschleuderte, vernichtete …aber es mußte ein gewandtes, witziges, schlagendes Wort sein, das ihn zugleich spitzig verwundete und ihm imponierte …

»Das ist nicht gegenseitig!« sagte sie, immer den Blick auf Herrn Grünlichs Brust geheftet; und nachdem sie diesen fein vergifteten Pfeil abgeschossen, ließ sie ihn stehen, legte den Kopf zurück und ging rot vor Stolz über ihre sarkastische Redegewandtheit nach Hause, woselbst sie erfuhr, daß Herr Grünlich zum nächsten Sonntag auf einen Kalbsbraten gebeten sei …

Und er kam. Er kam in einem nicht ganz neumodischen, aber feinen, glockenförmigen und faltigen Gehrock, der ihm einen Anstrich von Ernst und Solidität verlieh, – rosig übrigens und lächelnd, das spärliche Haar sorgfältig gescheitelt und mit duftig frisierten Favoris. Er aß Muschelragout, Juliennesuppe, gebackene Seezungen, Kalbsbraten mit Rahmkartoffeln und Blumenkohl, Marasquino-Pudding und Pumpernickel mit Roquefort und fand bei jedem Gerichte einen neuen Lobspruch, den er mit Delikatesse vorzubringen verstand. Er hob zum Beispiel seinen Dessertlöffel empor, blickte eine Statue der Tapete an und sprach laut zu sich selbst: »Gott verzeihe mir, ich kann nicht anders; ich habe ein großes Stück genossen, aber dieser Pudding ist gar zu prächtig gelungen; ich muß die gütige Wirtin noch um ein Stückchen ersuchen! « Worauf er der Konsulin schalkhaft zublinzelte. Er sprach mit dem Konsul über Geschäfte und Politik, wobei er ernste und tüchtige Grundsätze an den Tag legte, er plauderte mit der Konsulin über Theater, Gesellschaften und Toiletten; er hatte auch für Tom, Christian und die arme Klothilde, ja selbst für die kleine Klara und Mamsell Jungmann liebenswürdige Worte … Tony verhielt sich schweigsam, und er seinerseits unternahm es nicht, sich ihr zu nähern, sondern betrachtete sie nur dann und wann mit seitwärts geneigtem Kopfe und einem Blick, in dem sowohl Betrübnis wie Ermunterung lag.

Als Herr Grünlich sich an diesem Abend verabschiedete, hatte er den Eindruck verstärkt, den sein erster Besuch hervorgebracht.»Ein vollkommen erzogener Mann«, sagte die Konsulin.»Ein christlicher und achtbarer Mensch«, sagte der Konsul.Christian konnte seine Bewegungen und Sprache nun noch besser nachahmen, und Tony sagte mit finsteren Brauen gute Nacht, denn sie ahnte undeutlich, daß sie diesen Herrn, der sich mit so ungewöhnlicher Schnelligkeit die Herzen ihrer Eltern erobert hatte, nicht zum letztenmal gesehen habe.

In der Tat, sie fand Herrn Grünlich, wenn sie nachmittags von einem Besuche, einer Mädchengesellschaft zurückkehrte, eingenistet im Landschaftszimmer, woselbst er der Konsulin aus Walter Scotts »Waverley« vorlas – und zwar mit mustergültiger Aussprache, denn die Reisen im Dienste seines regen Geschäftes hatten ihn, wie er berichtete, auch nach England geführt.Tony setzte sich seitab mit einem anderen Buche, und Herr Grünlich fragte mit weicher Stimme: »Es entspricht wohl nicht Ihrem Geschmacke, mein Fräulein, was ich lese?« Worauf sie mit zurückgeworfenem Kopf etwas recht spitzig Sarkastisches erwiderte, wie zum Beispiel: »Nicht im geringsten!«

Aber er ließ sich nicht stören, er begann von seinen zu früh verstorbenen Eltern zu erzählen und berichtete von seinem Vater, der ein Prediger, ein Pastor, ein höchst christlicher und dabei in ebenso hohem Grade weltläufiger Mann gewesen war … Dann jedoch, ohne daß Tony seiner Abschiedsvisite beigewohnt hätte, war Herr Grünlich nach Hamburg abgereist.»Ida!« sagte sie zu Mamsell Jungmann, an der sie eine vertraute Freundin besaß.»Der Mensch ist fort!« Ida Jungmann aber antwortete: »Kindchen, wirst sehen …«

Acht Tage später ereignete sich jene Szene im Frühstückszimmer …Tony kam um neun Uhr herunter und war erstaunt, ihren Vater noch neben der Konsulin am Kaffeetische zu finden.Nachdem sie sich die Stirn hatte küssen lassen, setzte sie sich frisch, hungrig und mit schlafroten Augen an ihren Platz, nahm Zucker und Butter und bediente sich mit grünem Kräuterkäse.

»Wie hübsch, Papa, daß ich dich einmal noch vorfinde!« sagte sie, während sie mit der Serviette ihr heißes Ei erfaßte und es mit dem Teelöffel öffnete.

»Ich habe heute auf unsere Langschläferin gewartet«, sagte der Konsul, der eine Zigarre rauchte und beharrlich mit dem zusammengefalteten Zeitungsblatt leicht auf den Tisch schlug.Die Konsulin ihrerseits beendete langsam und mit graziösen Bewegungen ihr Frühstück und lehnte sich dann ins Sofa zurück.

»Thilda ist schon in der Küche tätig«, fuhr der Konsul bedeutsam fort, »und ich wäre ebenfalls bei meiner Arbeit, wenn deine Mutter und ich nicht in einer ernsthaften Angelegenheit mit unserem Töchterchen zu sprechen hätten.«

Tony, den Mund voll Butterbrot, blickte ihrem Vater und dann ihrer Mutter mit einem Gemisch von Neugier und Erschrockenheit ins Gesicht.

»Iß nur zuvor, mein Kind«, sagte die Konsulin, und als Tony trotzdem ihr Messer niederlegte und rief: »Nur gleich heraus damit, bitte, Papa!« wiederholte der Konsul, der durchaus nicht aufhörte, mit der Zeitung zu spielen: »Iß nur.«

Während Tony unter Stillschweigen und appetitlos ihren Kaffee trank, ihr Ei und ihren grünen Käse zum Brote verzehrte, fing sie zu ahnen an, um was es sich handelte.Die Morgenfrische verschwand von ihrem Gesicht, sie ward ein wenig bleich, sie dankte für Honig und erklärte bald mit leiser Stimme, daß sie fertig sei …

»Mein liebes Kind«, sagte der Konsul, nachdem er noch einen Augenblick geschwiegen hatte, »die Frage, über die wir mit dir zu reden haben, ist in diesem Briewe enthalten. « Und er pochte nun, statt mit der Zeitung, mit einem großen, bläulichen Kuvert auf den Tisch. »Um kurz zu sein: Herr Bendix Grünlich, den wir alle als einen braven und liebenswürdigen Mann kennengelernt haben, schreibt mir, daß er während seines hiesigen Aufenthaltes eine tiefe Neigung zu unserer Tochter gefaßt habe, und bittet in aller Form um ihre Hand. Was denkt unser gutes Kind darüber? «

Tony saß mit gesenktem Kopfe zurückgelehnt, und ihre rechte Hand drehte den silbernen Serviettenring langsam um sich selbst.Plötzlich aber schlug sie die Augen auf, Augen, die ganz dunkel geworden waren und voll von Tränen standen.Und mit bedrängter Stimme stieß sie hervor:

»Was will dieser Mensch von mir –!Was habe ich ihm getan –?!« Worauf sie in Weinen ausbrach.

Der Konsul warf seiner Gattin einen Blick zu und betrachtete ein wenig verlegen seine leere Tasse.

»Liebe Tony«, sagte die Konsulin sanft, »wozu dies Echauffement!Du kannst sicher sein, nicht wahr, daß deine Eltern nur dein Bestes im Auge haben, und daß sie dir nicht raten können, die Lebensstellung auszuschlagen, die man dir anbietet.Siehst du, ich nehme an, daß du noch keine entscheidenden Empfindungen für Herrn Grünlich hegst, aber das kommt, ich versichere dich, das kommt mit der Zeit …Einem so jungen Dinge, wie du, ist es niemals klar, was es eigentlich will …Im Kopfe sieht es so wirr aus wie im Herzen …Man muß dem Herzen Zeit lassen und den Kopf offen halten für die Zusprüche erfahrener Leute, die planvoll für unser Glück sorgen …«

»Ich weiß gar nichts von ihm –« brachte Tony trostlos hervor und drückte mit der kleinen weißen Batistserviette, in der sich Eiflecke befanden, ihre Augen.»Ich weiß nur, daß er einen goldgelben Backenbart hat und ein reges Geschäft …« Ihre Oberlippe, die beim Weinen zitterte, machte einen unaussprechlich rührenden Eindruck.

Der Konsul rückte mit einer Bewegung plötzlicher Zärtlichkeit seinen Stuhl an sie heran und strich lächelnd über ihr Haar.

»Meine kleine Tony«, sagte er, »was solltest du auch von ihm wissen?Du bist ein Kind, siehst du, du würdest nicht mehr von ihm wissen, wenn er nicht vier Wochen, sondern deren zweiundfünfzig hier verlebt hätte …Du bist ein kleines Mädchen, das noch keine Augen hat für die Welt, und das sich auf die Augen anderer Leute verlassen muß, die Gutes mit dir im Sinne haben …«

»Ich verstehe es nicht …ich verstehe es nicht …« schluchzte Tony fassungslos und schmiegte ihren Kopf wie ein Kätzchen unter die streichelnde Hand.»Er kommt hierher …sagt allen etwas Angenehmes …reist wieder ab …und schreibt, daß er mich …ich verstehe es nicht …wie kommt er dazu …was habe ich ihm getan?!…«

Der Konsul lächelte wieder. »Das hast du schon einmal gesagt, Tony, und es zeigt so recht deine kindliche Ratlosigkeit. Mein Töchterchen muß durchaus nicht glauben, daß ich es drängen und quälen will … Das alles kann mit Ruhe erwogen werden, muß mit Ruhe erwogen werden, denn es ist eine ernste Sache. Das werde ich auch Herrn Grünlich vorläufig antworten und sein Gesuch weder abschlagen noch bewilligen … Es gibt da viele Dinge zu überlegen … So … sehen wir wohl? abgemacht! Nun geht Papa an seine Arbeit … Adieu, Bethsy … «

»Auf Wiedersehen, mein lieber Jean.«

– »Du solltest immerhin noch ein wenig Honig nehmen, Tony«, sagte die Konsulin, als sie mit ihrer Tochter allein geblieben war, die unbeweglich und mit gesenktem Kopfe an ihrem Platze blieb.»Essen muß man hinlänglich …«

Tonys Tränen versiegten allmählich. Ihr Kopf war heiß und voll von Gedanken … Gott! was für eine Angelegenheit! Sie hatte es ja gewußt, daß sie eines Tages die Frau eines Kaufmannes werden, eine gute und vorteilhafte Ehe eingehen werde, wie es der Würde der Familie und der Firma entsprach … Aber nun geschah es ihr plötzlich zum ersten Male, daß jemand sie wirklich und allen Ernstes heiraten wollte! Wie sollte man sich dabei benehmen? Für sie, Tony Buddenbrook, handelte es sich plötzlich um alle diese furchtbar gewichtigen Ausdrücke, die sie bislang nur gelesen hatte: um ihr »Jawort«, um ihre »Hand« …»fürs Leben« …Gott!Was für eine gänzlich neue Lage auf einmal!

»Und du, Mama?« sagte sie.»Du rätst mir also auch, mein …Jawort zu geben?« Sie zögerte einen Augenblick vor dem »Jawort«, weil es ihr allzu hochtrabend und genant erschien; dann aber sprach sie es zum ersten Male in ihrem Leben mit Würde aus.Sie begann, sich ihrer anfänglichen Fassungslosigkeit ein wenig zu schämen.Es erschien ihr nicht weniger unsinnig, als zehn Minuten früher, Herrn Grünlich zu heiraten, aber die Wichtigkeit ihrer Stellung fing an, sie mit Wohlgefallen zu erfüllen.

Die Konsulin sagte:

»Zuraten, mein Kind?Hat Papa dir zugeraten?Er hat dir nicht abgeraten, das ist alles.Und es wäre unverantwortlich, von ihm wie von mir, wenn wir das tun wollten.Die Verbindung, die sich dir darbietet, ist vollkommen das, was man eine gute Partie nennt, meine liebe Tony …Du kämest nach Hamburg in ausgezeichnete Verhältnisse und würdest auf großem Fuße leben …«

Tony saß bewegungslos.Etwas wie seidene Portièren tauchte plötzlich vor ihr auf, wie es deren im Salon der Großeltern gab …Ob sie als Madame Grünlich morgens Schokolade trinken würde?Es schickte sich nicht, danach zu fragen.

»Wie dein Vater dir sagte: du hast Zeit zur Überlegung«, fuhr die Konsulin fort.»Aber wir müssen dir zu bedenken geben, daß sich eine solche Gelegenheit, dein Glück zu machen, nicht alle Tage bietet, und daß diese Heirat genau das ist, was Pflicht und Bestimmung dir vorschreiben.Ja, mein Kind, auch das muß ich dir vorhalten.Der Weg, der sich dir heute eröffnet, ist der dir vorgeschriebene, das weißt du selbst recht wohl …«

»Ja«, sagte Tony gedankenvoll. »Gewiß. « Sie war sich ihrer Verpflichtungen gegen die Familie und die Firma wohl bewußt, und sie war stolz auf diese Verpflichtungen. Sie, Antonie Buddenbrook, vor der der Träger Matthiesen tief seinen rauhen Zylinder abnahm, und die als Tochter des Konsuls Buddenbrook in der Stadt wie eine kleine Herrscherin umherging, war von der Geschichte ihrer Familie durchdrungen. Schon der Gewandschneider zu Rostock hatte sich sehr gut gestanden, und seit seiner Zeit war es immer glänzender bergauf gegangen. Sie hatte den Beruf, auf ihre Art den Glanz der Familie und der Firma »Johann Buddenbrook« zu fördern, indem sie eine reiche und vornehme Heirat einging … Tom arbeitete dafür im Kontor … Ja, die Art dieser Partie war sicherlich die richtige; aber ausgemacht Herr Grünlich … Sie sah ihn vor sich, seine goldgelben Favoris, sein rosiges, lächelndes Gesicht mit der Warze am Nasenflügel, seine kurzen Schritte, sie glaubte seinen wolligen Anzug zu fühlen und seine weiche Stimme zu hören …

»Ich wußte wohl«, sagte die Konsulin, »daß wir ruhigen Vorstellungen zugänglich sind …haben wir vielleicht schon einen Entschluß gefaßt?«

»O bewahre!« rief Tony, und sie betonte das »O« mit plötzlicher Entrüstung.»Was für ein Unsinn, Grünlich zu heiraten!Ich habe ihn beständig mit spitzen Redensarten verhöhnt …Ich begreife überhaupt nicht, daß er mich noch leiden mag!Er müßte doch ein bißchen Stolz im Leibe haben …«

Und damit fing sie an, sich Honig auf eine Scheibe Landbrot zu träufeln.

Drittes Kapitel

In diesem Jahre unternahmen Buddenbrooks auch während der Schulferien Christians und Klaras keine Erholungsreise. Der Konsul erklärte, geschäftlich zu sehr in Anspruch genommen zu sein, und die schwebende Frage in betreff Antoniens trug dazu bei, daß man abwartend in der Mengstraße verblieb. An Herrn Grünlich war, von der Hand des Konsuls geschrieben, ein überaus diplomatischer Brief abgegangen; aber der Fortgang der Dinge ward durch Tonys in den kindischsten Formen geäußerte Hartnäckigkeit behindert. »Bewahre, Mama! « sagte sie. »Ich kann ihn nicht ausstehen! « wobei sie die zweite Silbe des letzten Wortes mit höchstem Nachdruck betonte und das »st« ausnahmsweise nicht getrennt sprach. Oder sie erklärte mit Feierlichkeit: »Vater! « – sonst pflegte Tony »Papa« zu sagen – »Ich werde ihm mein Jawort niemals erteilen.«

Auf diesem Punkte wäre die Angelegenheit sicherlich noch lange Zeit stehengeblieben, wenn sich nicht, zehn Tage vielleicht nach jener Unterredung im Frühstückszimmer – man stand in der Mitte des Juli –, das Folgende ereignet hätte …

Es war Nachmittag – ein blauer, warmer Nachmittag; die Konsulin war ausgegangen, und Tony saß mit einem Romane allein im Landschaftszimmer am Fenster, als Anton ihr eine Visitkarte überbrachte.Bevor sie noch Zeit gehabt, den Namen zu lesen, betrat ein Herr in glockenförmigem Gehrock und erbsenfarbenem Beinkleid das Zimmer; es war, wie sich versteht, Herr Grünlich, und auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck flehender Zärtlichkeit.

Tony fuhr entsetzt auf ihrem Stuhle empor und machte eine Bewegung, als wollte sie in den Eßsaal entfliehen …Wie war es möglich, noch mit einem Herrn zu sprechen, der um ihre Hand angehalten hatte?Das Herz pochte ihr bis in den Hals hinauf, und sie war sehr bleich geworden.Solange sie Herrn Grünlich weit entfernt wußte, hatten die ernsthaften Verhandlungen mit den Eltern und die plötzliche Wichtigkeit ihrer Person und Entscheidung ihr geradezu Spaß gemacht.Nun aber war er wieder da!Er stand vor ihr!Was würde geschehen?Sie fühlte schon wieder, daß sie weinen werde.

Mit raschen Schritten, die Arme ausgebreitet und den Kopf zur Seite geneigt, in der Haltung eines Mannes, welcher sagen will: Hier bin ich! Töte mich, wenn du willst! kam Herr Grünlich auf sie zu. »Welch eine Fügung! « rief er. »Ich finde Sie, Antonie!« Er sagte »Antonie«.

Tony, die, ihren Roman in der Rechten, aufgerichtet an ihrem Stuhle stand, schob die Lippen hervor, und indem sie bei jedem Worte eine Kopfbewegung von unten nach oben machte und jedes dieser Worte mit einer tiefen Entrüstung betonte, stieß sie hervor:

»Was – fällt – Ihnen – ein!«

Trotzdem standen ihr die Tränen bereits in der Kehle.

Herrn Grünlichs Bewegung war allzu groß, als daß er diesen Einwurf hätte beachten können.

»Konnte ich länger warten … Mußte ich nicht hierher zurückkehren? « fragte er eindringlich. »Ich habe vor einer Woche den Brief Ihres lieben Herrn Vaters erhalten, diesen Brief, der mich mit Hoffnung erfüllt hat! Konnte ich noch länger in halber Gewißheit verharren, Fräulein Antonie? Ich hielt es nicht länger aus … Ich habe mich in einen Wagen geworfen … Ich bin hierher geeilt … Ich habe ein paar Zimmer im Gasthofe Stadt Hamburg genommen … und da bin ich, Antonie, um von Ihren Lippen das letzte, entscheidende Wort in Empfang zu nehmen, das mich glücklicher machen wird, als ich es zu sagen vermag! «

Tony war erstarrt; ihre Tränen traten zurück vor Verblüffung.Das also war die Wirkung des vorsichtigen väterlichen Briefes, der jede Entscheidung auf unbestimmte Zeit hinausgeschoben hatte!– Sie stammelte drei- oder viermal:

»Sie irren sich.– Sie irren sich …«

Herr Grünlich hatte einen Armsessel ganz dicht an ihren Fenstersitz herangezogen, er setzte sich, er nötigte auch sie selbst, sich wieder niederzulassen, und während er, vornübergebeugt, ihre Hand, die schlaff war vor Ratlosigkeit, in der seinen hielt, fuhr er mit bewegter Stimme fort:

»Fräulein Antonie … Seit dem ersten Augenblicke, seit jenem Nachmittage … Sie erinnern sich jenes Nachmittages?… als ich Sie zum ersten Male im Kreise der Ihrigen, eine so vornehme, so traumhaft liebliche Erscheinung, erblickte … ist Ihr Name mit unauslöschlichen Buchstaben in mein Herz geschrieben … « Er verbesserte sich und sagte: »gegraben«. »Seit jenem Tage, Fräulein Antonie, ist es mein einziger, mein heißer Wunsch, Ihre schöne Hand fürs Leben zu gewinnen, und was der Brief Ihres lieben Herrn Vaters mich nur hoffen ließ, das werden Sie mir nun zur glücklichen Gewißheit machen … nicht wahr?! ich darf mit Ihrer Gegenneigung rechnen … Ihrer Gegenneigung sicher sein! « Hierbei ergriff er auch mit der anderen Hand die ihre und blickte ihr tief in die ängstlich geöffneten Augen. Er trug heute keine Zwirnhandschuhe; seine Hände waren lang, weiß und von hohen, blauen Adern durchzogen.

Tony starrte in sein rosiges Gesicht, auf die Warze an seiner Nase, und in seine Augen, die so blau waren wie diejenigen einer Gans.

»Nein, nein!« brachte sie rasch und angstvoll hervor.Hierauf sagte sie noch: »Ich gebe Ihnen nicht mein Jawort!« Sie bemühte sich fest zu sprechen, aber sie weinte schon.

»Womit habe ich dieses Zweifeln und Zögern Ihrerseits verdient?« fragte er mit tief gesenkter und fast vorwurfsvoller Stimme.»Sie sind ein von liebender Sorgfalt behütetes und verwöhntes Mädchen …aber ich schwöre Ihnen, ja, ich verpfände Ihnen mein Manneswort, daß ich Sie auf Händen tragen werde, daß Sie als meine Gattin nichts entbehren werden, daß Sie in Hamburg ein Ihrer würdiges Leben führen werden …«

Tony sprang auf, sie befreite ihre Hand, und während ihre Tränen hervorstürzten, rief sie völlig verzweifelt:

»Nein … nein! Ich habe ja nein gesagt! Ich gebe Ihnen einen Korb, verstehen Sie das denn nicht, Gott im Himmel?!… «

Allein auch Herr Grünlich erhob sich. Er trat einen Schritt zurück, er breitete die Arme aus, indem er ihr beide Handflächen entgegenhielt, und sprach mit dem Ernst eines Mannes von Ehre und Entschluß:

»Wissen Sie, Mademoiselle Buddenbrook, daß ich mich nicht in dieser Weise beleidigen lassen darf?«

»Aber ich beleidige Sie nicht, Herr Grünlich«, sagte Tony, denn sie bereute, so heftig gewesen zu sein.Mein Gott, mußte gerade ihr dies begegnen!Sie hatte sich so eine Werbung nicht vorgestellt.Sie hatte geglaubt, man brauche nur zu sagen: »Ihr Antrag ehrt mich, aber ich kann ihn nicht annehmen«, damit alles erledigt sei …

»Ihr Antrag ehrt mich«, sagte sie so ruhig sie konnte; »aber ich kann ihn nicht annehmen …So, und ich muß Sie nun …verlassen, entschuldigen Sie, ich habe keine Zeit mehr.«

Aber Herr Grünlich stand ihr im Wege.

»Sie weisen mich zurück?« fragte er tonlos …

»Ja«, sagte Tony; und aus Vorsicht fügte sie hinzu: »Leider« …

Da atmete Herr Grünlich heftig auf, er machte zwei große Schritte rückwärts, beugte den Oberkörper zur Seite, wies mit dem Zeigefinger auf den Teppich und rief mit fürchterlicher Stimme:

»Antonie –!«

So standen sie sich während eines Augenblicks gegenüber; er in aufrichtig erzürnter und gebietender Haltung, Tony blaß, verweint und zitternd, das feuchte Taschentuch am Munde.Endlich wandte er sich ab und durchmaß, die Hände auf dem Rücken, zweimal das Zimmer, als sei er hier zu Hause.Dann blieb er am Fenster stehen und blickte durch die Scheiben in die beginnende Dämmerung.

Tony schritt langsam und mit einer gewissen Behutsamkeit auf die Glastür zu; aber sie befand sich erst in der Mitte des Zimmers, als Herr Grünlich aufs neue bei ihr stand.

»Tony!« sagte er ganz leise, während er sanft ihre Hand erfaßte; und er sank …sank langsam bei ihr zu Boden auf die Knie.Seine beiden goldgelben Favoris lagen auf ihrer Hand.

»Tony …«, wiederholte er, »sehen Sie mich hier …Dahin haben Sie es gebracht …Haben Sie ein Herz, ein fühlendes Herz?…Hören Sie mich an …Sie sehen einen Mann vor sich, der vernichtet, zugrunde gerichtet ist, wenn …ja, der vor Kummer sterben wird«, unterbrach er sich mit einer gewissen Hast, »wenn Sie seine Liebe verschmähen!Hier liege ich …bringen Sie es über das Herz, mir zu sagen: Ich verabscheue Sie –?«

»Nein, nein! « sagte Tony plötzlich in tröstendem Ton. Ihre Tränen waren versiegt, Rührung und Mitleid stiegen in ihr auf. Mein Gott, wie sehr mußte er sie lieben, daß er diese Sache, die ihr selbst innerlich ganz fremd und gleichgültig war, so weit trieb! War es möglich, daß sie dies erlebte? In Romanen las man dergleichen, und nun lag im gewöhnlichen Leben ein Herr im Gehrock vor ihr auf den Knien und flehte!… Ihr war der Gedanke, ihn zu heiraten, einfach unsinnig erschienen, weil sie Herrn Grünlich albern gefunden hatte. Aber, bei Gott, in diesem Augenblicke war er durchaus nicht albern! Aus seiner Stimme und seinem Gesicht sprach eine so ehrliche Angst, eine so aufrichtige und verzweifelte Bitte …

»Nein, nein«, wiederholte sie, indem sie sich ganz ergriffen über ihn beugte, »ich verabscheue Sie nicht, Herr Grünlich, wie können Sie dergleichen sagen!… Aber nun stehen Sie auf … bitte … «

»Sie wollen mich nicht töten?« fragte er wieder, und sie sagte noch einmal in einem beinahe mütterlich tröstenden Ton:

»Nein – nein …«

»Das ist ein Wort!« rief Herr Grünlich und sprang auf die Füße.Sofort aber, als er Tonys erschrockene Bewegung sah, ließ er sich noch einmal nieder und sagte ängstlich beschwichtigend:

»Gut, gut …sprechen Sie nun nichts mehr, Antonie!Genug für diesmal, ich bitte Sie, von dieser Sache …Wir reden weiter davon …Ein anderes Mal …Ein anderes Mal …Leben Sie wohl für heute …Leben Sie wohl …Ich kehre zurück …Leben Sie wohl!–«

Er hatte sich rasch erhoben, er hatte seinen großen grauen Hut vom Tische gerissen, hatte ihre Hand geküßt und war durch die Glastür hinausgeeilt.

Tony sah, wie er in der Säulenhalle seinen Stock ergriff und im Korridor verschwand.Sie stand, völlig verwirrt und erschöpft, inmitten des Zimmers, das feuchte Taschentuch in einer ihrer hinabhängenden Hände.

Viertes Kapitel

Konsul Buddenbrook sagte zu seiner Gattin:

»Wenn ich mir denken könnte, daß Tony irgendeinen delikaten Beweggrund hat, sich für diese Verbindung nicht entschließen zu können! Aber sie ist ein Kind, Bethsy, sie ist vergnügungslustig, tanzt auf Bällen, läßt sich von den jungen Leuten bekuren, und zwar mit Pläsier, denn sie weiß, daß sie hübsch und von Familie ist … sie ist vielleicht im geheimen und unbewußt auf der Suche, aber ich kenne sie, sie hat ihr Herz, wie man zu sagen pflegt, noch gar nicht entdeckt … Fragte man sie, so würde sie den Kopf hin und her drehen und nachdenken … aber sie würde niemanden finden … Sie ist ein Kind, ein Spatz, ein Springinsfeld … Sagt sie ja, so wird sie ihren Platz gefunden haben, sie wird sich nett installieren können, wonach ihr der Sinn steht, und ihren Mann schon nach ein paar Tagen lieben … Er ist kein Beau, nein, mein Gott, nein, er ist kein Beau … aber er ist immerhin im höchsten Grade präsentabel, und man kann am Ende nicht fünf Beine auf ein Schaf verlangen, wenn du mir die kaufmännische Phrase zugut halten willst!… Wenn sie warten will, bis jemand kommt, der eine Schönheit und außerdem eine gute Partie ist – nun, Gott befohlen! Tony Buddenbrook findet immer noch etwas. Indessen andererseits … es bleibt ein Risiko, und, um wieder kaufmännisch zu reden, Fischzug ist alle Tage, aber nicht alle Tage Fangetag!… Ich habe gestern vormittag in einer längeren Unterredung mit Grünlich, der sich ja mit dem andauerndsten Ernste bewirbt, seine Bücher gesehen … er hat sie mir vorgelegt … Bücher, Bethsy, zum Einrahmen! Ich habe ihm mein höchstes Vergnügen ausgesprochen! Seine Sachen stehen für ein so junges Geschäft recht gut, recht gut. Sein Vermögen beläuft sich auf etwa 120000 Taler, was ersichtlich nur die vorläufige Grundlage ist, denn er macht jährlich einen hübschen Schnitt … Was Duchamps sagen, die ich befragte, klingt auch nicht übel: Seine Verhältnisse seien ihnen zwar nicht bekannt, aber er lebe gentleman like, verkehre in der besten Gesellschaft, und sein Geschäft sei ein notorisch lebhaftes und weit verzweigtes … Was ich bei einigen anderen Hamburger Leuten, wie zum Beispiel bei einem Bankier Kesselmeyer, erfahren, hat mich gleichfalls vollauf befriedigt. Kurz, wie du weißt, Bethsy, ich kann nicht anders, als diese Heirat, die der Familie und der Firma nur zum Vorteil gereichen würde, dringend erwünschen! – Es tut mir ja leid, mein Gott, daß das Kind sich in einer bedrängten Lage befindet, daß sie von allen Seiten umlagert ist, bedrückt umhergeht und kaum noch spricht; aber ich kann mich schlechterdings nicht entschließen, Grünlich kurzerhand abzuweisen … denn noch eines, Bethsy, und das kann ich nicht oft genug wiederholen: Wir haben uns in den letzten Jahren bei Gott nicht in allzu hocherfreulicher Weise aufgenommen. Nicht als ob der Segen fehlte, behüte, nein, treue Arbeit wird redlich belohnt. Die Geschäfte gehen ruhig … ach, allzu ruhig, und auch das nur, weil ich mit äußerster Vorsicht zu Werke gehe.Wir sind nicht vorwärts gekommen, nicht wesentlich, seit Vater abgerufen wurde.Die Zeiten jetzt sind wahrhaftig nicht gut für den Kaufmann …Kurz, es ist nicht viele Freude dabei.Unsere Tochter ist heiratsfähig und in der Lage, eine Partie zu machen, die allen Leuten als vorteilhaft und rühmlich in die Augen springt – sie soll sie machen!Warten ist nicht ratsam, nicht ratsam, Bethsy!Sprich noch einmal mit ihr; ich habe ihr heute Nachmittag nach Kräften zugeredet …«

– Tony war in bedrängter Lage, darin hatte der Konsul recht.Sie sagte nicht mehr »nein«, aber sie vermochte auch das »Ja« nicht über die Lippen zu bringen – Gott mochte ihr helfen!Sie begriff selbst nicht recht, warum sie sich die Zusage nicht abgewinnen konnte.

Unterdessen nahm sie hier der Vater beiseite und sprach ein ernstes Wort, ließ dort die Mutter sie bei sich Platz nehmen, um eine endliche Entschließung zu fordern …Onkel Gotthold und seine Familie hatte man in die Angelegenheit nicht eingeweiht, weil sie immer ein bißchen mokant gegen die in der Mengstraße gestimmt waren.Aber sogar Sesemi Weichbrodt hatte von der Sache erfahren und riet mit korrekter Aussprache zum guten, selbst Mamsell Jungmann sagte: »Tonychen, mein Kindchen, brauchst keine Sorge haben, bleibst in den ersten Kreisen …« und Tony konnte nicht den verehrten seidnen Salon draußen vorm Burgtore besuchen, ohne daß die alte Madame Kröger anfing: »A propos, ich höre da von einer Affäre, ich hoffe, du wirst Räson annehmen, Kleine …«

Eines Sonntags, als sie mit den Eltern und Geschwistern in der Marienkirche saß, redete Pastor Kölling in starken Worten über den Text, der da besagt, daß das Weib Vater und Mutter verlassen und dem Manne nachfolgen soll – wobei er plötzlich ausfallend wurde. Tony starrte entsetzt zu ihm empor, ob er sie vielleicht sogar ansähe … Nein, Gott sei Dank, er hielt seinen dicken Kopf nach einer anderen Seite gewandt und predigte nur im allgemeinen über die andächtige Menge hin; und dennoch war es nur allzu klar, daß dies ein neuer Angriff auf sie war und jedes Wort ihr galt. Ein jugendliches, ein noch kindliches Weib, verkündete er, das noch keinen eigenen Willen und keine eigene Einsicht besitze und dennoch den liebevollen Ratschlüssen der Eltern sich widersetze, das sei strafbar, das wolle der Herr ausspeien aus seinem Munde …und bei dieser Wendung, welche zu denen gehörte, für die Pastor Kölling schwärmte und die er mit Begeisterung hervorbrachte, traf Tony dennoch ein durchdringender Blick aus seinen Augen, der von einer furchtbaren Armbewegung begleitet war …Tony sah, wie ihr Vater neben ihr eine Hand erhob, als wollte er sagen: »So!nicht zu heftig …« Aber es war kein Zweifel, daß Pastor Kölling von ihm oder der Mutter ins Einverständnis gezogen war.Rot und gebückt saß sie an ihrem Platze, mit dem Gefühle, daß die Augen aller Welt auf ihr ruhten – und am nächsten Sonntage weigerte sie sich aufs bestimmteste, die Kirche zu besuchen.

Sie ging schweigsam umher, sie lachte nicht mehr genug, sie verlor geradezu den Appetit und seufzte manchmal so herzbrechend, als ringe sie mit einem Entschlusse, um dann die Ihren kläglich anzusehen …Man mußte Mitleid mit ihr haben.Sie magerte wahrhaftig ab und büßte an Frische ein.Schließlich sagte der Konsul:

»Das geht nicht länger, Bethsy, wir dürfen das Kind nicht malträtieren.Sie muß mal ein bißchen heraus, zur Ruhe kommen und sich besinnen; du sollst sehen, dann nimmt sie Vernunft an.Ich kann mich nicht losmachen, und die Ferien sind beinahe vorüber …aber wir können auch alle ganz gut zu Hause bleiben.Gestern war zufällig der alte Schwarzkopf von Travemünde hier, Diederich Schwarzkopf, der Lotsenkommandeur.Ich ließ ein paar Worte fallen, und er zeigte sich mit Vergnügen bereit, die Dirn für einige Zeit bei sich aufzunehmen …Ich gebe ihm eine kleine Entschädigung …Da hat sie eine behagliche Häuslichkeit, kann baden und Luft schnappen und mit sich ins reine kommen.Tom fährt mit ihr, und alles ist in Ordnung.Das geschieht besser morgen als später …«

Mit diesem Einfalle erklärte Tony sich freudig einverstanden. Sie bekam Herrn Grünlich zwar kaum zu Gesicht, aber sie wußte, daß er in der Stadt war, mit den Eltern verhandelte und wartete … Mein Gott, er konnte jeden Tag wieder vor ihr stehen, um zu schreien und zu flehen!In Travemünde und in einem fremden Hause würde sie sicherer vor ihm sein …So packte sie eilig und vergnügt ihren Koffer, und dann, an einem der letzten Julitage, stieg sie mit Tom, der sie begleiten sollte, in die majestätische Krögersche Equipage, sagte in bester Laune Adieu und fuhr aufatmend zum Burgtor hinaus.

Fünftes Kapitel

Nach Travemünde geht es immer geradeaus, mit der Fähre übers Wasser und dann wieder geradeaus; der Weg war beiden wohlbekannt.Die graue Chaussee glitt flink unter den hohl und taktmäßig aufschlagenden Hufen von Lebrecht Krögers dicken Braunen aus Mecklenburg dahin, obgleich die Sonne brannte und der Staub die spärliche Aussicht verhüllte.Man hatte ausnahmsweise um 1 Uhr zu Mittag gegessen, und die Geschwister waren punkt 2 Uhr abgefahren, so würden sie kurz nach 4 Uhr anlangen, denn wenn eine Droschke drei Stunden gebraucht, so hatte der Krögersche Jochen Ehrgeiz genug, den Weg in zweien zu machen.

Tony nickte in träumerischem Halbschlaf unter ihrem großen, flachen Strohhut und ihrem mit cremefarbenen Spitzen besetzten Sonnenschirm, der bindfadengrau war, wie ihr schlicht gearbeitetes, schlankes Kleid, und den sie gegen das Rückverdeck gelehnt hatte.Ihre Füße in Schuhen mit Kreuzbändern und weißen Strümpfen hatte sie zierlich übereinander gestellt; sie saß bequem und elegant zurückgelehnt, wie für die Equipage geschaffen.

Tom, schon zwanzigjährig, mit Akkuratesse in blaugraues Tuch gekleidet, hatte den Strohhut zurückgeschoben und rauchte russische Zigaretten.Er war nicht sehr groß geworden; aber sein Schnurrbart, dunkler als Haar und Wimpern, begann kräftig zu wachsen.Indem er nach seiner Gewohnheit eine Braue ein wenig emporzog, blickte er in die Staubwolken und auf die vorüberziehenden Chausseebäume.

Tony sagte:

»Ich bin noch niemals so froh gewesen, nach Travemünde zu kommen, wie diesmal, … erstens aus allerhand Gründen, Tom, du brauchst dich durchaus nicht zu mokieren; ich wollte, ich könnte ein gewisses Paar goldgelber Kotelettes noch einige Meilen weiter zurücklassen … Dann aber wird es ein ganz neues Travemünde sein, da in der Vorderreihe bei Schwarzkopfs … Ich werde mich gar nicht um die Kurgesellschaft bekümmern … Das kenne ich zur Genüge … Und ich bin gar nicht dazu aufgelegt … Überdies steht dem … Menschen da draußen alles offen, er geniert sich nicht, paß auf, er würde eines Tages hold lächelnd neben mir auftauchen … «

Tom warf die Zigarette fort und nahm sich eine neue aus der Büchse, in deren Deckel eine von Wölfen überfallene Troika kunstvoll eingelegt war: das Geschenk irgendeines russischen Kunden an den Konsul.Die Zigaretten, diese kleinen scharfen Dinger mit gelbem Mundstück waren Toms Leidenschaft; er rauchte sie massenweise und hatte die schlimme Gewohnheit, den Rauch tief in die Lunge zu atmen, so daß er beim Sprechen langsam wieder hervorsprudelte.

»Ja«, sagte er, »was das betrifft, im Kurgarten wimmelt es von Hamburgern.Konsul Fritsche, der das ganze gekauft hat, ist ja selbst einer …Er soll augenblicklich glänzende Geschäfte machen, sagt Papa …Übrigens läßt du dir doch manches entgehen, wenn du nicht ein bißchen mittust …Peter Döhlmann ist natürlich dort; um diese Zeit ist er nie in der Stadt; sein Geschäft geht ja wohl von selbst im Hundetrab …komisch!Na …Und Onkel Justus kommt sicher Sonntags ein bißchen hinaus und macht der Roulette einen Besuch …Dann sind da Möllendorpfs und Kistenmakers, glaube ich, vollzählig, und Hagenströms …«

»Ha!– Natürlich!Wie wäre Sarah Semlinger wohl entbehrlich …«

»Sie heißt übrigens Laura, mein Kind, man muß gerecht sein.«

»Mit Julchen natürlich … Julchen soll sich diesen Sommer mit August Möllendorpf verloben, und Julchen wird es tun! Dann gehören sie doch endgültig dazu! Weißt du, Tom, es ist empörend! Diese hergelaufene Familie … «

»Ja, lieber Gott …Strunck & Hagenström machen sich geschäftlich heraus; das ist die Hauptsache …«

»Selbstverständlich! und man weiß ja auch, wie sie's machen … Mit den Ellenbogen, weißt du … ohne jede Kulanz und Vornehmheit … Großvater sagte von Hinrich Hagenström: ›Dem kalbt der Ochse‹, das waren seine Worte … «

»Ja, ja, ja, das ist nun einerlei.Verdienen wird groß geschrieben.Und was diese Verlobung betrifft, so ist das ein ganz korrektes Geschäft.Julchen wird eine Möllendorpf, und August bekommt einen hübschen Posten …«

»Ach …du willst mich übrigens ärgern, Tom, das ist alles …Ich verachte diese Menschen …«

Tom fing an zu lachen.»Mein Gott …man wird sich mit ihnen einrichten müssen, weißt du.Wie Papa neulich sagte: Sie sind die Heraufkommenden …Während zum Beispiel Möllendorpfs …Und dann kann man den Hagenströms die Tüchtigkeit nicht absprechen.Hermann ist schon sehr nützlich im Geschäft und Moritz hat trotz seiner schwachen Brust die Schule glänzend absolviert.Er soll sehr gescheut sein und studiert Jura.«

»Schön …aber dann freut es mich wenigstens, Tom, daß es auch noch andere Familien gibt, die sich vor ihnen nicht zu bücken brauchen, und daß zum Beispiel wir Buddenbrooks denn doch …«

»So«, sagte Tom, »nun wollen wir nur nicht anfangen zu prahlen.Ihre wunden Punkte hat jede Familie«, fuhr er mit einem Blick auf Jochens breiten Rücken leiser fort.»Wie es zum Beispiel mit Onkel Justus steht, weiß der liebe Gott.Papa schüttelt immer den Kopf, wenn er von ihm spricht, und Großvater Kröger hat ein paarmal, glaube ich, mit großen Summen aushelfen müssen …Und mit den Vettern ist auch nicht alles in Ordnung.Jürgen, der ja studieren will, kommt immer noch nicht zum Abgangsexamen …Und mit Jakob, bei Dalbeck & Comp.in Hamburg, soll man gar nicht zufrieden sein.Er kommt niemals mit seinem Gelde aus, obgleich er wohl versorgt wird; und was Onkel Justus ihm verweigert, das schickt ihm Tante Rosalie …Nein, ich finde, man soll keinen Stein aufheben.Wenn du übrigens den Hagenströms die Waagschale halten willst, so solltest du doch Grünlich heiraten!«

»Sind wir in diesen Wagen gestiegen, um davon zu sprechen? Ja! Ja! ich sollte es vielleicht! Aber ich will jetzt nicht daran denken. Ich will es einfach vergessen.Nun fahren wir zu Schwarzkopfs.Ich habe sie wissentlich nie gesehen …Es sind wohl nette Leute?«

»Oh!Diederich Swattkopp, dat is'n ganz passablen ollen Kierl …Das heißt, so spricht er nicht immer, sondern nur, wenn er mehr als fünf Gläser Grog getrunken hat.Einmal, als er im Kontor gewesen war, gingen wir zusammen in die Schiffergesellschaft …Er trank wie ein Loch.Sein Vater ist auf einem Norwegenfahrer geboren und nachher Kapitän auf dieser Linie gewesen.Diederich hat einen guten Bildungsgang gemacht; die Lotsenkommandantur ist eine verantwortliche und ziemlich gut bezahlte Stellung.Er ist ein alter Seebär …aber immer galant mit den Damen.Paß auf, er wird dir die Kur machen …«

»Ha!– Und die Frau?«

»Seine Frau kenne ich selbst nicht.Sie wird schon gemütlich sein.Übrigens ist da ein Sohn, der zu meiner Zeit in Sekunda oder Prima saß und jetzt wohl studiert …Sieh mal, da ist die See!Eine kleine Viertelstunde noch …«

In einer Allee von jungen Buchen fuhren sie eine Strecke ganz dicht am Meere entlang, das blau und friedlich in der Sonne lag.Der runde gelbe Leuchtturm tauchte auf, sie übersahen eine Weile Bucht und Bollwerk, die roten Dächer des Städtchens und den kleinen Hafen mit dem Segel- und Tauwerk der Böte.Dann fuhren sie zwischen den ersten Häusern hindurch, ließen die Kirche zurück und rollten die »Vorderreihe«, die sich am Flusse hinzog, entlang bis zu einem hübschen kleinen Hause, dessen Veranda dicht mit Weinlaub bewachsen war.

Lotsenkommandeur Schwarzkopf stand vor seiner Tür und nahm beim Herannahen der Kalesche die Schiffermütze ab.Es war ein untersetzter, breiter Mann mit rotem Gesicht, wasserblauen Augen und einem eisgrauen, stacheligen Bart, der fächerförmig von einem Ohr zum anderen lief.Sein abwärts gezogener Mund, in dem er eine Holzpfeife hielt und dessen rasierte Oberlippe hart, rot und gewölbt war, machte einen Eindruck von Würde und Biederkeit.Eine weiße Pikeeweste leuchtete unter seinem offenen mit Goldborten verzierten Rock.Breitbeinig und mit etwas vorgestrecktem Bauche stand er da.

»Ist wahrhaftig eine Ehre für mich, Mamsell, alles was recht ist, daß Sie eine Zeitlang bei uns fürliebnehmen wollen … « Er hob Tony mit Behutsamkeit aus dem Wagen. »Kompliment, Herr Buddenbrook! Wohlauf, der Herr Papa? Und die Frau Konsulin?… Ist mir ein aufrichtiges Pläsier!… Na, treten die Herrschaften näher! Meine Frau hat wohl so etwas wie einen kleinen Imbiß bereit. – Fahr'n Se man to Gastwirt Peddersen«, sagte er zum Kutscher, der den Koffer ins Haus getragen hatte; »da sünd de Pierd ganz gaut unnerbracht … Sie übernachten doch bei uns, Herr Buddenbrook?… I, warum nicht gar! Die Pferde müssen doch verschnaufen, und dann kämen Sie ja nicht vor Dunkelwerden zur Stadt … «

»Wissen Sie, hier wohnt man mindestens so gut, wie draußen im Kurhaus«, sagte Tony eine Viertelstunde später, als man in der Veranda um den Kaffeetisch saß.»Was für prachtvolle Luft!Man riecht den Tang bis hierher.Ich bin entsetzlich froh, wieder in Travemünde zu sein!«

Zwischen den grünbewachsenen Pfeilern der Veranda hindurch blickte man auf den breiten, in der Sonne glitzernden Fluß mit Kähnen und Landungsbrücken und hinüber zum Fährhaus auf dem »Priwal«, der vorgeschobenen Halbinsel Mecklenburgs.Die weiten, kummenartigen Tassen mit blauem Rande waren ungewohnt plump im Vergleich mit dem zierlichen alten Porzellan zu Hause; aber der Tisch, auf dem an Tonys Platz ein Strauß von Wiesenblumen stand, war einladend, und die Fahrt hatte Hunger gemacht.

»Ja, Mamsell soll sehen, daß sie sich hier herausmacht«, sagte die Hausfrau.»Sie sieht ein bißchen strap'ziert aus, wenn ich mich so ausdrücken darf; das macht die Stadtluft, und dann sind da die vielen Fêten …«

Frau Schwarzkopf, eine Pastorstochter aus Schlutup, schien ungefähr 50 Jahre zu zählen, war einen Kopf kleiner als Tony und ziemlich schmächtig. Ihr noch schwarzes, glatt und reinlich frisiertes Haar stak in einem großmaschigen Netze. Sie trug ein dunkelbraunes Kleid mit einem kleinen weißgehäkelten Kragen und ebensolchen Manschetten. Sie war sauber, sanft und freundlich und empfahl eifrig ihr selbstgebackenes Korinthenbrot, das, umgeben von Rahm, Zucker, Butter und Scheibenhonig, in dem bootförmigen Brotkorb lag.Diesen Korb schmückte eine Borte von Perlenstickerei, welche die kleine Meta gearbeitet hatte, ein achtjähriges, artiges, kleines Mädchen, das in schottischem Kleidchen und mit einem flachsblonden, steif abstehenden Zöpfchen neben seiner Mutter saß.

Frau Schwarzkopf entschuldigte sich wegen des Zimmers, das für Tony bestimmt war, und in dem diese schon ein wenig Toilette gemacht hatte.Es sei so einfach …

»Pah allerliebst!« sagte Tony.Es habe Aussicht auf die See, das sei die Hauptsache.Und dabei tauchte sie die vierte Scheibe Korinthenbrot in ihren Kaffee.Tom sprach mit dem Alten über den »Wullenwewer«, der jetzt in der Stadt repariert wurde …

Plötzlich kam ein junger Mensch von etwa 20 Jahren mit einem Buch in die Veranda, der seinen grauen Filzhut abnahm und sich errötend und etwas linkisch verbeugte.

»Na, min Söhn«, sagte der Lotsenkommandeur, »du kömmst spät …« Dann stellte er vor: »Das ist mein Sohn –«, er nannte einen Vornamen, den Tony nicht verstand.»Studiert auf den Doktor …bringt seine Ferien bei uns zu …«

»Sehr angenehm«, sagte Tony, wie sie es gelernt hatte.Tom stand auf und gab ihm die Hand.Der junge Schwarzkopf verbeugte sich nochmals, legte sein Buch aus der Hand und nahm, aufs neue errötend, am Tische Platz.

Er war von mittlerer Größe, ziemlich schmal und so blond wie möglich. Sein beginnender Schnurrbart, so farblos wie das kurzgeschnittene Haar, das seinen länglichen Kopf bedeckte, war kaum zu sehen; und dem entsprach ein außerordentlich heller Teint, eine Haut wie poröses Porzellan, die bei der geringsten Gelegenheit hellrot anlaufen konnte. Seine Augen waren von etwas dunklerem Blau als die seines Vaters, und hatten denselben, nicht sehr lebhaften, gutmütig prüfenden Ausdruck; seine Gesichtszüge waren ebenmäßig und ziemlich angenehm. Als er anfing zu essen, zeigte er ungewöhnlich gutgeformte, engstehende Zähne, die spiegelnd blank waren, wie poliertes Elfenbein. Übrigens trug er eine graue, geschlossene Joppe mit Klappen an den Taschen und einem Gummizug im Rücken.

»Ja, ich bitte um Entschuldigung, ich komme zu spät«, sagte er.Seine Sprache war ein wenig schwerfällig und knarrend.»Ich habe ein bißchen am Strande gelesen und nicht früh genug nach der Uhr gesehen.« Hierauf kaute er schweigsam und musterte Tom und Tony nur dann und wann prüfend von unten herauf.

Später, als Tony wieder einmal von der Hausfrau genötigt wurde, zuzulangen, sagte er:

»Dem Scheibenhonig können Sie vertrauen, Fräulein Buddenbrook …Das ist reines Naturprodukt …Da weiß man doch, was man verschluckt …Sie müssen ordentlich essen, wissen Sie!Diese Luft hier, die zehrt …die beschleunigt den Stoffwechsel.Wenn Sie nicht genug zu sich nehmen, so fallen Sie ab …« Er hatte eine naive und sympathische Art, sich beim Sprechen vorzubeugen und manchmal eine andere Person dabei anzublicken als die, an die er sich wandte.

Seine Mutter hörte ihm zärtlich zu und forschte dann in Tonys Gesicht nach dem Eindruck, den seine Worte hervorbrächten.Der alte Schwarzkopf aber sagte:

»Nu speel di man nich up, Herr Dokter, mit deinem Stoffwechsel …Da wollen wir gar nichts von wissen«, worauf der junge Mensch lachte und wieder errötend auf Tonys Teller blickte.

Ein paarmal nannte der Lotsenkommandeur den Vornamen seines Sohnes, aber Tony konnte ihn durchaus nicht verstehen.Es war etwas wie »Moor« oder »Mord« …unmöglich, es in der breiten und platten Aussprache des Alten zu erkennen.

Als die Mahlzeit beendet war, als Diederich Schwarzkopf, der, mit weit von der weißen Weste zurückgeschlagenem Rock, behaglich in die Sonne blinzelte, und sein Sohn ihre kurzen Holzpfeifen zu rauchen begannen und Tom sich wieder seinen Zigaretten widmete, waren die jungen Leute in ein lebhaftes Gespräch über alte Schulgeschichten geraten, an dem Tony sich munter beteiligte.Herr Stengel wurde zitiert …»Du sollst 'ne Line machen, und was machst du?Du machst 'n Strich!« Schade, daß Christian nicht da war; er konnte das noch viel besser …

Einmal sagte Tom zu seiner Schwester, indem er auf die vor ihr stehenden Blumen wies:

»Herr Grünlich würde sagen: Das putzt ganz ungemein!«

Worauf Tony ihn, rot vor Zorn, in die Seite stieß und einen scheuen Blick zu dem jungen Schwarzkopf hinübergleiten ließ.

Man hatte mit dem Kaffeetrinken heute ungewöhnlich lange gewartet, und man saß lange beieinander.Es war schon halb sieben Uhr, und über den »Priwal« drüben begann sich die Dämmerung zu senken, als der Kommandeur sich erhob.

»Na, die Herrschaften entschuldigen«, sagte er.»Ich habe nun noch drüben im Lotsenhause zu tun …Wir essen um achte, wenn's gefällig ist …Oder heut' mal ein bißchen später, Meta, wie?…Und du –« hier nannte er wieder den Vornamen, – »nun sitz hier nur nicht herum …Nun geh nur hinaus und gib dich wieder mit deinen Knochen ab …Mamsell Buddenbrook wird wohl auspacken …Oder wenn die Herrschaften an den Strand gehen wollen …Störe nur nicht!«

»Diederich, mein Gott, warum soll er nicht noch sitzen bleiben«, sagte Frau Schwarzkopf sanft und vorwurfsvoll.»Und wenn die Herrschaften an den Strand gehen wollen, warum soll er nicht mitgehen?Er hat doch Ferien, Diederich!…Und soll er denn gar nichts von unserem Besuche haben?«

Sechstes Kapitel

In ihrem kleinen, reinlichen Zimmer, dessen Möbel mit hellgeblümtem Kattun überzogen waren, erwachte Tony am nächsten Morgen mit dem angeregten und freudigen Gefühl, mit dem man in einer neuen Lebenslage die Augen öffnet.

Sie setzte sich empor, und indem sie die Arme um ihre Knie schlang und den zerzausten Kopf zurücklegte, blinzelte sie in den schmalen und blendenden Streifen vom Tageslicht, der zwischen den geschlossenen Läden hindurch ins Zimmer fiel, und kramte mit Muße die gestrigen Erlebnisse wieder hervor.

Kaum ein Gedanke streifte Herrn Grünlichs Person. Die Stadt und der gräßliche Auftritt im Landschaftszimmer und die Ermahnungen der Familie und Pastor Köllings lagen weit zurück. Hier würde sie nun jeden Morgen ganz sorglos erwachen … Diese Schwarzkopfs waren prächtige Leute. Gestern abend hatte es wahrhaftig eine Apfelsinenbowle gegeben, und man hatte auf ein glückliches Zusammenleben angestoßen. Man war sehr vergnügt gewesen. Der alte Schwarzkopf hatte Seegeschichten zum besten gegeben und der junge von Göttingen berichtet, wo er studierte … Aber es war doch sonderbar, daß sie noch immer seinen Vornamen nicht wußte! Sie hatte mit Spannung darauf geachtet, aber er war beim Abendessen nicht mehr genannt worden, und es hätte sich wohl nicht geschickt, danach zu fragen. Sie dachte angestrengt nach … Mein Gott, wie hieß der junge Mensch! Moor … Mord …? Übrigens hatte er ihr gut gefallen, dieser Moor oder Mord. Er hatte ein so gutmütig verschmitztes Lachen, wenn er um Wasser bat und statt dessen ein paar Buchstaben mit Zahlen dahinter nannte, so daß der Alte ganz böse wurde. Ja, das sei aber die wissenschaftliche Formel für Wasser … allerdings nicht für dieses Wasser, denn die Formel für diese Travemünder Flüssigkeit sei wohl viel komplizierter. Jeden Augenblick könne man eine Qualle darin finden … Die hohe Obrigkeit habe ihre eignen Begriffe von Süßwasser … Worauf ihm wieder ein väterlicher Verweis zuteil geworden war, weil er in wegwerfendem Tone von der Obrigkeit gesprochen hatte. Frau Schwarzkopf hatte immer in Tonys Gesicht nach Bewunderung gesucht, und wahrhaftig, er sprach sehr amüsant, zugleich lustig und gelehrt … Er hatte sich ziemlich viel um sie gekümmert, der junge Herr. Sie hatte geklagt, daß sie beim Essen einen heißen Kopf bekäme, sie glaube zu viel Blut zu haben … Was hatte er geantwortet? Er hatte sie gemustert und gesagt: Ja, die Arterien an den Schläfen seien gefüllt, aber das schließe nicht aus, daß nicht genug Blut oder genug rote Blutkörperchen im Kopfe seien … Sie sei vielleicht ein bißchen bleichsüchtig …

Der Kuckuck sprang aus der geschnitzten Wanduhr und gluckste viele Male hell und hohl. »Sieben, acht, neun«, zählte Tony, »aufgestanden! « Und damit sprang sie aus dem Bette und stieß die Fensterläden auf.Der Himmel war ein wenig bedeckt, aber die Sonne schien.Man sah über das Leuchtenfeld mit dem Turm weit über die krause See hinaus, die rechts im Bogen von der mecklenburgischen Küste begrenzt war und sich in grünlichen und blauen Streifen erstreckte, bis sie mit dem dunstigen Horizont zusammenfloß.Nachher will ich baden, dachte Tony, aber vorher ordentlich frühstücken, damit der Stoffwechsel nicht an mir zehrt …Und damit machte sie sich lächelnd und mit raschen, vergnügten Bewegungen ans Waschen und Ankleiden.

Es war kurz nach halb 10 Uhr, als sie die Stube verließ.Die Tür des Zimmers, wo Tom geschlafen hatte, stand offen; er war in aller Frühe wieder zur Stadt gefahren.Schon hier oben in dem ziemlich hoch gelegenen Stockwerk, in dem nur Schlafzimmer lagen, roch es nach Kaffee.Das schien der charakteristische Geruch des kleinen Hauses zu sein, und er nahm zu, als Tony die mit einem schlichten, undurchbrochenen Holzgeländer versehene Treppe hinunterstieg und drunten über den Korridor ging, an dem Wohn- und Eßzimmer und das Büro des Lotsenkommandeurs lagen.Frisch und in bester Laune betrat sie in ihrem weißen Pikeekleide die Veranda.

Frau Schwarzkopf saß mit ihrem Sohne allein am Kaffeetische, der schon teilweise abgeräumt war.Sie trug eine blaukarierte Küchenschürze über ihrem braunen Kleid.Ein Schlüsselkorb stand vor ihr.

»Tausendmal um Vergebung«, sagte sie, indem sie aufstand, »daß wir nicht gewartet haben, Mamsell Buddenbrook!Wir sind früh auf, wir einfachen Leute.Da gibt es hunderterlei zu tun …Schwarzkopf ist in seinem Büro …Nicht wahr, Mamsell ist nicht böse?«

Tony ihrerseits entschuldigte sich.»Sie müssen nicht glauben, daß ich immer so lange schlafe.Ich habe ein sehr böses Gewissen.Aber die Bowle von gestern abend …«

Hier fing der junge Sohn des Hauses an zu lachen.Er stand, seine kurze Holzpfeife in der Hand, hinter dem Tische.Die Zeitung lag vor ihm.

»Ja, Sie sind schuld«, sagte Tony; »guten Morgen!… Sie haben beständig mit mir angestoßen … Jetzt verdiene ich nur noch kalten Kaffee.Ich müßte schon gefrühstückt und gebadet haben …«

»Nein, das wäre zu früh für eine junge Dame!Um sieben war das Wasser noch ziemlich kalt, wissen Sie; 11 Grad …das schneidet ein bißchen nach der Bettwärme …«

»Woher wissen Sie denn, daß ich lauwarm baden will, monsieur?« Und Tony nahm am Tische Platz.»Sie haben mir den Kaffee warm gehalten, Frau Schwarzkopf!…Aber einschenken tue ich mir selbst …vielen Dank!«

Die Hausfrau sah zu, wie ihr Gast die ersten Bissen aß.

»Und Mamsell hat gut geschlafen die erste Nacht? Ja, mein Gott, die Matratze ist mit Seegras gefüllt … wir sind einfache Leute … Aber nun wünsche ich guten Appetit und einen vergnügten Vormittag. Mamsell wird sicher mancherlei Bekannte am Strande treffen … Wenn es angenehm ist, begleitet mein Sohn Sie hin. Um Verzeihung, daß ich nicht länger Gesellschaft leiste, aber ich muß nach dem Essen sehen. Ich habe eine Bratwurst … Wir geben es so gut, wie wir können. «

»Ich halte mich an den Scheibenhonig«, sagte Tony, als die beiden allein waren.»Sehen Sie, da weiß man doch, was man verschluckt!«

Der junge Schwarzkopf stand auf und legte seine Pfeife auf die Brüstung der Veranda.

»Aber rauchen Sie doch!Nein, das stört mich ganz und gar nicht.Wenn ich zu Hause zum Frühstück komme, ist immer schon Papas Zigarrenrauch in der Stube …Sagen Sie mal«, fragte sie plötzlich, »ist es wahr, daß ein Ei soviel wert ist wie ein Viertelpfund Fleisch?«

Er wurde über und über rot.»Wollen Sie mich eigentlich zum besten haben, Fräulein Buddenbrook?« fragte er zwischen Lachen und Ärger.»Ich habe gestern abend noch einen Rüffel von Vater bekommen wegen meiner Fachsimpelei und Wichtigtuerei, wie er sagte …«

»Aber ich habe ganz harmlos gefragt?! « Tony hörte vor Bestürzung einen Augenblick auf zu essen. »Wichtigtuerei! Wie kann man dergleichen sagen!… Ich möchte gern etwas erfahren … Mein Gott, ich bin eine Gans, sehen Sie! Bei Sesemi Weichbrodt war ich immer unter den Faulsten.Und Sie wissen, glaube ich, so viel …« Innerlich dachte sie: Wichtigtuerei?Man befindet sich in fremder Gesellschaft, zeigt sich von seiner besten Seite, setzt seine Worte und sucht zu gefallen – das ist doch klar …

»Nun ja, es deckt sich in gewisser Weise«, sagte er geschmeichelt.»Was gewisse Nährstoffe betrifft …«

Hierauf, während Tony frühstückte und der junge Schwarzkopf fortfuhr, seine Pfeife zu rauchen, fing man an, von Sesemi Weichbrodt zu schwatzen, von Tonys Pensionszeit, von ihren Freundinnen, Gerda Arnoldsen, die nun wieder in Amsterdam war, und Armgard von Schilling, deren weißes Haus man vom Strande aus sehen konnte, wenigstens bei klarem Wetter …

Später, als sie schon mit essen fertig war und sich den Mund wischte, fragte Tony, indem sie auf die Zeitung deutete:

»Steht etwas Neues darin?«

Der junge Schwarzkopf lachte und schüttelte mit spöttischem Mitleid den Kopf.

»Ach nein …Was soll wohl darin stehen?…Wissen Sie, diese Städtischen Anzeigen sind ein klägliches Blättchen!«

»Oh?…Aber Papa und Mama haben sie immer gehalten?«

»Ja, nun!« sagte er und wurde rot …»Ich lese sie ja auch, wie Sie sehen, weil eben nichts anderes zur Hand ist.Aber daß der Großhändler Konsul So und So seine silberne Hochzeit zu feiern gedenkt, ist nicht allzu erschütternd …Ja – ja!Sie lachen …Aber Sie sollten mal andere Blätter lesen, die Königsberger Hartungsche Zeitung …oder die Rheinische Zeitung …da würden Sie etwas anderes finden!Was der König von Preußen auch sagen mag …«

»Was sagt er denn?«

»Ja …nein, das kann ich leider vor einer Dame nicht zitieren …« Und er wurde abermals rot.»Er hat sich ziemlich ungnädig über diese Presse geäußert«, fuhr er mit einem etwas gewaltsam ironischen Lächeln fort, das Tony einen Augenblick peinlich berührte.»Sie geht nicht sehr glimpflich mit der Regierung um, wissen Sie, mit den Adligen, mit Pfaffen und Junkern …sie weiß allzu geschickt die Zensur an der Nase zu führen …«

»Nun und Sie, gehen Sie auch nicht glimpflich mit den Adligen um? «

»Ich?« fragte er und geriet in Verlegenheit …Tony stand auf.

»Na, darüber müssen wir ein anderes Mal reden.Wie wäre es, wenn ich nun zum Strande ginge?Sehen Sie, es ist beinahe ganz blau geworden.Heute wird es nicht mehr regnen.Ich habe die größte Lust, wieder einmal in die See zu springen.Wollen Sie mich hinunter begleiten?…«

Siebentes Kapitel

Sie hatte ihren großen Strohhut aufgesetzt und ihren Sonnenschirm aufgespannt, denn es herrschte, obgleich ein kleiner Seewind ging, heftige Hitze.Der junge Schwarzkopf schritt, in seinem grauen Filzhut, sein Buch in der Hand, neben ihr her und betrachtete sie manchmal von der Seite.Sie gingen die »Vorderreihe« entlang und spazierten durch den Kurgarten, der stumm und schattenlos mit seinen Kieswegen und Rosenanlagen dalag.Der Musiktempel, zwischen Nadelbäumen versteckt, stand schweigend dem Kurhaus, der Konditorei und den beiden, durch ein langes Zwischengebäude miteinander verbundenen Schweizerhäusern gegenüber.Es war gegen halb 12 Uhr; die Badegäste mußten sich noch am Strande befinden.

Die beiden gingen über den Kinderspielplatz mit den Bänken und der großen Schaukel; sie gingen nahe am Warmbadehause vorbei und wanderten langsam über das Leuchtenfeld.Die Sonne brütete auf dem Grase und ließ diesen heißen, würzigen Geruch von Klee und Kraut daraus aufsteigen, in dem blaue Fliegen surrend standen und umherschossen.Ein monotones, gedämpftes Rauschen kam vom Meere her, in dessen Ferne dann und wann kleine Schaumköpfe aufblitzten.

»Was lesen Sie da eigentlich?« fragte Tony.

Der junge Mann nahm das Buch in beide Hände und blätterte es schnell von hinten nach vorne durch.

»Ach, das ist nichts für Sie, Fräulein Buddenbrook! Lauter Blut und Gedärme und Elend … Sehen Sie, hier ist gerade von Lungenödem die Rede, auf deutsch: Stickfluß.Dabei sind nämlich die Lungenbläschen mit einer so wässerigen Flüssigkeit angefüllt …das ist hochgradig gefährlich und kommt bei Lungenentzündung vor.Wenn es schlimm ist, kann man nicht mehr atmen und stirbt ganz einfach.Und das alles ist ganz kühl von oben herab behandelt …«

»Ja, pfui!…Aber wenn man Doktor werden will …Ich werde dafür sorgen, daß Sie bei uns Hausarzt werden, wenn Grabow sich später einmal zur Ruhe setzt, passen Sie auf!«

»Ha!…Und was lesen Sie denn, wenn ich fragen darf, Fräulein Buddenbrook?«

»Kennen Sie Hoffmann?« fragte Tony.

»Den mit dem Kapellmeister und dem goldenen Topf?Ja, das ist sehr hübsch …Aber, wissen Sie, es ist doch wohl mehr für Damen.Männer müssen heute etwas anderes lesen.«

»Jetzt muß ich Sie eines fragen«, sagte Tony nach ein paar Schritten und faßte einen Entschluß. »Nämlich, wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen! Ich habe ihn noch kein einziges Mal verstanden … das macht mich förmlich nervös! Ich habe geradezu darüber gegrübelt … «

»Sie haben darüber gegrübelt?«

»Ach ja – nun erschweren Sie mir die Sache nicht!Es schickt sich wohl nicht, daß ich frage; aber ich bin natürlich neugierig …Übrigens brauche ich es ja, solange ich lebe, nicht zu erfahren.«

»Na, ich heiße Morten«, sagte er und wurde so rot wie noch niemals.

»Morten?Das ist hübsch!«

»Nun!hübsch …«

»Ja, mein Gott …es ist doch hübscher, als wenn Sie Hinz oder Kunz hießen.Es ist etwas Besonderes, etwas Ausländisches …«

»Sie sind eine Romantikerin, Mademoiselle Buddenbrook; Sie haben zuviel Hoffmann gelesen …Ja, die Sache ist ganz einfach die: Mein Großvater war ein halber Norweger und hieß Morten.Nach ihm bin ich getauft worden.Das ist alles …«

Tony stieg behutsam durch das hohe, scharfe Schilfgras, das am Rande des nackten Strandes stand. Die Reihe der hölzernen Strandpavillons mit ihren kegelförmigen Dächern lag vor ihnen und ließ den Durchblick auf die Strandkörbe frei, die näher am Wasser standen, und um die Familien im warmen Sande lagerten: Damen mit blauen Schutzpincenez und Leihbibliotheksbänden, Herren in hellen Anzügen, die müßig mit ihren Spazierstöcken Figuren in den Sand zeichneten, gebräunte Kinder mit großen Strohhüten auf den Köpfen, die schaufelten, sich wälzten, nach Wasser gruben, mit Holzformen Kuchen buken, Tunnels bohrten, mit bloßen Beinen in die niedrigen Wellen hineinwateten und Schiffe schwimmen ließen …Rechts ragte das Holzgebäude der Badeanstalt in die See hinaus.

»Nun marschieren wir geradeswegs auf den Möllendorpfschen Pavillon zu«, sagte Tony.»Lassen Sie uns doch etwas abbiegen!«

»Gern …aber Sie werden sich nun ja wohl den Herrschaften anschließen …Ich setze mich da hinten auf die Steine.«

»Anschließen …ja, ja, ich werde wohl guten Tag sagen müssen.Aber es ist mir recht zuwider, müssen Sie wissen.Ich bin hierher gekommen, um meinen Frieden zu haben …«

»Frieden?Vor wem?«

»Nun!Vor wem …«

»Hören Sie, Fräulein Buddenbrook, ich muß Sie auch noch eines fragen … aber bei Gelegenheit, später, wenn Zeit dazu ist. Nun erlauben Sie, daß ich Ihnen Adieu sage. Ich setze mich dahinten auf die Steine … «

»Soll ich Sie nicht vorstellen, Herr Schwarzkopf?« fragte Tony mit Wichtigkeit.

»Nein, ach nein« …sagte Morten eilig, »ich danke sehr.Ich gehöre doch wohl kaum dazu, wissen Sie.Ich setze mich dahinten auf die Steine …«

Es war eine größere Gesellschaft, auf die Tony zuschritt, während Morten Schwarzkopf sich rechter Hand zu den großen Steinblöcken begab, die neben der Badeanstalt vom Wasser bespült wurden, – eine Gruppe, die vor dem Möllendorpfschen Pavillon lagerte und von den Familien Möllendorpf, Hagenström, Kistenmaker und Fritsche gebildet ward. Abgesehen von Konsul Fritsche aus Hamburg, dem Besitzer des Ganzen, und Peter Döhlmann, dem Suitier, bestand sie ausschließlich aus Damen und Kindern, denn es war Alltag, und die meisten Herren befanden sich in der Stadt bei ihren Geschäften.Konsul Fritsche, ein älterer Herr mit glattrasiertem, distinguiertem Gesicht, beschäftigte sich droben im offenen Pavillon mit einem Fernrohr, das er auf einen in der Ferne sichtbaren Segler richtete.Peter Döhlmann, mit einem breitkrempigen Strohhut und rundgeschnittenem Schifferbart, stand plaudernd bei den Damen, die auf Plaids im Sande lagen oder auf kleinen Sesseln aus Segeltuch saßen: Frau Senatorin Möllendorpf, geborene Langhals, die mit einer langgestielten Lorgnette hantierte, und deren Haupt von grauem Haar unordentlich umstanden war; Frau Hagenström nebst Julchen, die ziemlich klein geblieben war, aber, wie ihre Mutter, bereits Brillanten in den Ohren trug; Frau Konsul Kistenmaker nebst Töchtern und die Konsulin Fritsche, eine runzelige kleine Dame, die eine Haube trug und im Bade Wirtspflichten versah.Rot und ermattet sann sie auf nichts als Reunions, Kinderbälle, Verlosungen und Segelpartien …Ihre Vorleserin saß in einiger Entfernung.Die Kinder spielten am Wasser.

Kistenmaker & Sohn war die aufblühende Weinhandlung, die in den letzten Jahren C.F.Köppen aus der Mode zu bringen begann.Die beiden Söhne, Eduard und Stephan, arbeiteten bereits in dem väterlichen Geschäft.– Dem Konsul Döhlmann fehlten gänzlich die ausgesuchten Manieren, über die etwa Justus Kröger verfügte; er war ein biederer Suitier, ein Suitier, dessen Spezialität die gutmütige Grobheit war und der sich in der Gesellschaft außerordentlich viel herausnehmen durfte, weil er wußte, daß er besonders bei den Damen mit seinem behäbigen, dreisten und lauten Gebaren als ein Original beliebt war.Als auf einem Diner bei Buddenbrooks sich das Erscheinen eines Gerichtes lange Zeit verzögerte, die Hausfrau in Verlegenheit und die beschäftigungslose Gesellschaft in Mißstimmung geriet, stellte er die gute Laune wieder her, indem er mit seiner breiten und lärmenden Stimme über die ganze Tafel brüllte: »Ick bün so wied, Fru Konsulin!«

Mit eben dieser schallenden und groben Stimme erzählte er augenblicklich fragwürdige Anekdoten, die er mit plattdeutschen Wendungen würzte …Die Senatorin Möllendorpf rief, erschöpft und außer sich vor Lachen, einmal über das andere: »Mein Gott, Herr Konsul, hören Sie einen Augenblick auf!«

– Tony Buddenbrook ward von den Hagenströms kalt, von der übrigen Gesellschaft mit großer Herzlichkeit empfangen.Selbst Konsul Fritsche kam eilfertig die Stufen des Pavillons herunter, denn er hoffte, daß wenigstens im nächsten Jahre wieder die Buddenbrooks helfen würden, das Bad zu bevölkern.

»Der Ihrige, Mamsell!« sagte Konsul Döhlmann, mit möglichst feiner Aussprache, denn er wußte, daß Fräulein Buddenbrook seine Manieren nicht besonders bevorzugte.

»Mademoiselle Buddenbrook!«

»Sie hier?«

»Wie reizend!«

»Und seit wann?«

»Und welch inzückende Toilette!« – Man sagte »inzückend«.

»Und Sie wohnen?«

»Bei Schwarzkopfs?«

»Beim Lotsenkommandeur?«

»Wie originell!«

»Wie finde ich das forchtbar originell! « – Man sagte »forchtbar«.

»Sie wohnen in der Stadt?« wiederholte Konsul Fritsche, der Besitzer des Kurhauses, ohne ahnen zu lassen, daß ihn dies peinlich berührte …

»Werden Sie uns nicht das Vergnügen machen bei der nächsten Reunion?« fragte seine Gattin …

»Oh, nur für kurze Zeit in Travemünde?« antwortete eine andere Dame …

»Finden Sie nicht, Liebe, daß die Buddenbrooks ein bißchen allzu exklusiv sind?« wandte sich Frau Hagenström ganz leise an die Senatorin Möllendorpf …

»Und Sie haben noch nicht gebadet?« fragte jemand.»Wer von den jungen Damen hat sonst heute noch nicht gebadet?Mariechen, Julchen, Luischen?Selbstredend begleiten Ihre Freundinnen Sie, Fräulein Antonie …«

Einige junge Mädchen trennten sich von der Gesellschaft, um mit Tony zu baden, und Peter Döhlmann ließ es sich nicht nehmen, die Damen den Strand entlang zu geleiten.

»Gott!erinnerst du dich noch unserer Schulgänge von damals?« fragte Tony Julchen Hagenström.

»J–ja!Sie spielten immer die Boshafte«, sagte Julchen mit mitleidigem Lächeln.

Man ging oberhalb des Strandes auf dem Steg von paarweise gelegten Brettern der Badeanstalt zu; und als man an den Steinen vorüberkam, wo Morten Schwarzkopf mit seinem Buche saß, nickte Tony ihm aus der Ferne mehrmals mit rascher Kopfbewegung zu.Jemand erkundigte sich: »Wen grüßtest du, Tony?«

»Oh, das war der junge Schwarzkopf«, sagte Tony; »er hat mich herunterbegleitet …«

»Der Sohn des Lotsenkommandeurs?« fragte Julchen Hagenström und blickte mit ihren blanken schwarzen Augen scharf zu Morten hinüber, der seinerseits mit einer gewissen Melancholie die elegante Gesellschaft musterte.Tony aber sagte mit lauter Stimme: »Eines bedaure ich: nämlich, daß zum Beispiel August Möllendorpf nicht hier ist …Es muß doch alltags recht langweilig am Strande sein!«

Achtes Kapitel

Hiermit begannen schöne Sommerwochen für Tony Buddenbrook, kurzweiligere und angenehmere, als sie jemals in Travemünde erlebt hatte.Sie blühte auf, nichts lastete mehr auf ihr; in ihre Worte und Bewegungen kehrten Keckheit und Sorglosigkeit zurück.Der Konsul betrachtete sie mit Wohlgefallen, wenn er Sonntags mit Tom und Christian nach Travemünde kam.Dann speiste man an der Table d'hote, trank bei der Kurmusik den Kaffee unter dem Zeltdach der Konditorei und sah drinnen im Saale der Roulette zu, um die lustige Leute, wie Justus Kröger und Peter Döhlmann, sich drängten: Der Konsul spielte niemals.

Tony sonnte sich, sie badete, aß Bratwurst mit Pfeffernußsauce und machte weite Spaziergänge mit Morten: den Chausseeweg zum Nachbarort, den Strand entlang zu dem hoch gelegenen »Seetempel«, der eine weite Aussicht über See und Land beherrschte, oder in das Wäldchen hinauf, das hinterm Kurhause lag und auf dessen Höhe die große Table d'hote-Glocke hing …Oder sie ruderten über die Trave zum »Priwal«, wo es Bernstein zu finden gab …

Morten war ein unterhaltender Begleiter, wiewohl seine Meinungen ein wenig hitzig und absprechend waren.Er führte über alle Dinge ein strenges und gerechtes Urteil mit sich, das er mit Entschiedenheit hervorbrachte, obgleich er rot dabei wurde.Tony ward betrübt und sie schalt ihn, wenn er mit etwas ungeschickter aber zorniger Geste alle Adeligen für Idioten und Elende erklärte; aber sie war sehr stolz darauf, daß er ihr gegenüber offen und zutraulich seine Anschauungen aussprach, die er den Eltern verschwieg …Einmal sagte er: »Dies muß ich Ihnen noch erzählen: Auf meiner Bude in Göttingen habe ich ein vollkommenes Gerippe …wissen Sie, so ein Knochengerippe, notdürftig mit etwas Draht zusammengehalten.Na, diesem Gerippe habe ich eine alte Polizistenuniform angezogen …ha!Finden Sie das nicht ausgezeichnet?Aber sagen Sie es um Gottes willen nicht meinem Vater!« –

Es konnte nicht fehlen, daß Tony oftmals mit ihrer städtischen Bekanntschaft am Strande oder im Kurgarten verkehrte, daß sie zu dieser oder jener Reunion und Segelpartie hinzugezogen wurde.Dann saß Morten »auf den Steinen«.Diese Steine waren seit dem ersten Tage zwischen den beiden zur stehenden Redewendung geworden.»Auf den Steinen sitzen«, das bedeutete: »Vereinsamt sein und sich langweilen«.Kam ein Regentag, der die See weit und breit in einen grauen Schleier hüllte, daß sie völlig mit dem tiefen Himmel zusammenfloß, der den Strand durchweichte und die Wege überschwemmte, dann sagte Tony: »Heute müssen wir beide auf den Steinen sitzen …das heißt in der Veranda oder im Wohnzimmer.Es bleibt nichts übrig, als daß Sie mir Ihre Studentenlieder vorspielen, Morten, obgleich es mich greulich langweilt.«

»Ja«, sagte Morten, »setzen wir uns …Aber wissen Sie, wenn Sie dabei sind, so sind es keine Steine mehr!« …Übrigens sagte er dergleichen nicht, wenn sein Vater zugegen war; seine Mutter durfte es hören.

»Was nun? « fragte der Lotsenkommandeur, wenn nach dem Mittagessen Tony und Morten gleichzeitig aufstanden und sich anschickten, auf und davon zu gehen … »Wohin mit den jungen Herrschaften! «

»Ja, ich darf Fräulein Antonie ein bißchen zum Seetempel begleiten.«

»So, darfst du das?– Sage mal, mein Sohn Filius, wäre es nicht am Ende angebrachter, du setztest dich auf deine Stube und repetiertest deine Nervenstränge?Du hast alles vergessen, bis du wieder nach Göttingen kommst …«

Frau Schwarzkopf aber sprach sanft: »Diederich, mein Gott!warum soll er nicht mitgehen?Laß ihn doch mitgehen!Er hat doch Ferien!Und soll er denn gar nichts von unserem Besuche haben?« – So gingen sie.

Sie gingen den Strand entlang, ganz unten am Wasser, dort wo der Sand von der Flut benetzt, geglättet und gehärtet ist, so daß man mühelos gehen kann; wo kleine, gewöhnliche, weiße Muscheln verstreut liegen und andere, längliche, große, opalisierende; dazwischen gelbgrünes, nasses Seegras mit runden, hohlen Früchten, welche knallen, wenn man sie zerdrückt; und Quallen, einfache, wasserfarbene sowohl wie rotgelbe, giftige, welche das Bein verbrennen, wenn man sie beim Baden berührt …

»Wollen Sie wissen, wie dumm ich früher war?« sagte Tony.»Ich wollte die bunten Sterne aus den Quallen heraus haben.Ich trug eine ganze Menge Quallen im Taschentuche nach Hause und legte sie säuberlich auf den Balkon in die Sonne, damit sie verdunsteten …dann mußten die Sterne doch übrigbleiben!Ja, schön …Als ich nachsah, war da ein ziemlich großer nasser Fleck.Es roch nur ein bißchen nach faulem Seetang …«

Sie gingen, das rhythmische Rauschen der langgestreckten Wellen neben sich, den frischen Salzwind im Gesicht, der frei und ohne Hindernis daherkommt, die Ohren umhüllt und einen angenehmen Schwindel, eine gedämpfte Betäubung hervorruft …Sie gingen in diesem weiten, still sausenden Frieden am Meere, der jedes kleine Geräusch, ob fern oder nah, zu geheimnisvoller Bedeutung erhebt …

Links befanden sich zerklüftete Abhänge aus gelbem Lehm und Geröll, gleichförmig, mit immer neu hervorspringenden Ecken, welche die Biegungen der Küste verdeckten. Hier irgendwo, weil der Strand zu steinig wurde, kletterten sie hinauf, um droben durch das Gehölz den ansteigenden Weg zum Seetempel fortzusetzen. Der Seetempel, ein runder Pavillon, war aus rohen Borkenstämmen und Brettern erbaut, deren Innenseiten mit Inschriften, Initialen, Herzen, Gedichten bedeckt war … Tony und Morten setzten sich in eine der kleinen abgeteilten Kammern, die der See zugewandt waren, und in denen es nach Holz roch wie in den Kabinen der Badeanstalt, auf die schmale, roh gezimmerte Bank im Hintergrunde.

Es war sehr still und feierlich hier oben um diese Nachmittagsstunde.Ein paar Vögel schwatzten, und das leise Rauschen der Bäume vermischte sich mit dem des Meeres, das sich dort tief unten ausbreitete und in dessen Ferne das Takelwerk eines Schiffes zu sehen war.Geschützt vor dem Winde, der bislang um ihre Ohren gespielt hatte, empfanden sie plötzlich eine nachdenklich stimmende Stille.

Tony erkundigte sich: »Kommt der oder geht er?«

»Wie?« fragte Morten mit seiner schwerfälligen Stimme …und als ob er aus irgendeiner tiefen Abwesenheit erwachte, sagte er rasch: »Geht!Das ist der ›Bürgermeister Steenbock‹, der nach Rußland fährt.– Ich möchte nicht mit«, setzte er nach einer Pause hinzu.»Dort muß es noch empörender zugehen als bei uns!«

»So!« sagte Tony.»Nun gedenken Sie wieder mit den Adligen anzufangen, Morten, ich sehe es Ihrem Gesichte an.Es ist nicht schön von Ihnen …Haben Sie jemals einen gekannt?«

»Nein!« rief Morten beinahe entrüstet.»Gott sei Dank!«

»Ja!ja, sehen Sie wohl?Ich aber.Ein Mädchen allerdings, Armgard von Schilling dort drüben, von der ich Ihnen schon erzählte.Nun, sie war gutmütiger als Sie und ich, sie wußte kaum, daß sie ›von‹ hieß, sie aß Mettwurst und sprach von ihren Kühen …«

»Sicherlich gibt es Ausnahmen, Fräulein Tony! « sagte er eifrig. »Aber hören Sie … Sie sind eine junge Dame, Sie sehen alles persönlich an. Sie kennen einen Adligen und sagen: Aber er ist doch ein braver Mensch! Gewiß … aber man braucht gar keinen zu kennen, um sie alle zu verurteilen! Denn es handelt sich um das Prinzip, wissen Sie, um die Einrichtung! Ja, darauf müssen Sie schweigen … Wie? Jemand braucht nur geboren zu werden, um ein Auserlesener und Edler zu sein … der verächtlich auf uns anderen herabblicken darf, … die wir mit allen Verdiensten nicht auf seine Höhe gelangen können?… « Morten sprach mit einer naiven und gutherzigen Entrüstung; er versuchte, Handbewegungen zu machen, sah selbst, daß sie ungeschickt waren, und unterließ sie wieder. Aber er redete fort. Er war in Stimmung. Er saß vorgebeugt, einen Daumen zwischen den Knöpfen seiner Joppe, und gab seinen gutmütigen Augen einen trotzigen Ausdruck … »Wir, die Bourgeoisie, der dritte Stand, wie wir bis jetzt genannt worden sind, wir wollen, daß nur noch ein Adel des Verdienstes bestehe, wir erkennen den faulen Adel nicht mehr an, wir leugnen die jetzige Rangordnung der Stände … wir wollen, daß alle Menschen frei und gleich sind, daß niemand einer Person unterworfen ist, sondern alle nur den Gesetzen untertänig sind!… Es soll keine Privilegien und keine Willkür mehr geben!… Alle sollen gleichberechtigte Kinder des Staates sein, und wie keine Mittlerschaft mehr existiert zwischen dem Laien und dem lieben Gott, so soll auch der Bürger zum Staate in unmittelbarem Verhältnis stehen!… Wir wollen Freiheit der Presse, der Gewerbe, des Handels … Wir wollen, daß alle Menschen ohne Vorrechte miteinander konkurrieren können und daß dem Verdienste seine Krone wird!… Aber wir sind geknechtet, geknebelt … was wollte ich eben sagen? Ja, passen Sie auf: Vor vier Jahren sind die Bundesgesetze über die Universitäten und die Presse erneuert worden – schöne Gesetze! Es darf keine Wahrheit niedergeschrieben oder gelehrt werden, die vielleicht nicht mit der bestehenden Ordnung der Dinge übereinstimmt … Verstehen Sie? Die Wahrheit wird unterdrückt, sie kommt nicht zum Worte … und warum? einem idiotischen, veralteten, hinfälligen Zustande zuliebe, der, wie jedermann weiß, früher oder später ja dennoch abgeschafft werden wird … Ich glaube, Sie begreifen diese Gemeinheit gar nicht! Die Gewalt, die dumme, rohe, augenblickliche Polizistengewalt, ganz ohne Verständnis für das Geistige und Neue … Nein, von allem abgesehen will ich nur noch eines sagen … Der König von Preußen hat ein großes Unrecht begangen! Damals, anno dreizehn, als die Franzosen im Lande waren, hat er uns gerufen und uns die Konstitution versprochen … wir sind gekommen, wir haben Deutschland befreit … «

Tony, die ihn, das Kinn in die Hand gestützt, von der Seite betrachtete, überlegte einen Augenblick ernstlich, ob er selbst wohl wirklich geholfen haben könne, Napoleon zu vertreiben.

»… aber meinen Sie, daß das Versprechen eingelöst worden ist? Ach nein! – Der jetzige König ist ein Schönredner, ein Träumer, ein Romantiker, wie Sie, Fräulein Tony … Denn eines müssen Sie beachten: Wenn die Philosophen und Dichter eine Wahrheit, eine Anschauung, ein Prinzip soeben wieder überwunden und abgetan haben, dann kommt allmählich ein König, der nun gerade dabei angelangt ist, der nun gerade dies für das Neueste und Beste hält und sich danach benehmen zu müssen glaubt … Ja, so ist es mit dem Königtum bestellt! Die Könige sind nicht nur Menschen, sie sind sogar höchst mittelmäßige Menschen, sie sind immer um mehrere Postmeilen zurück … Ach, mit Deutschland ist es gegangen, wie mit einem Burschenschafts-Studenten, der zur Zeit der Freiheitskriege seine mutige und begeisterte Jugend hatte und nun zum kläglichen Philister geworden ist … «

»Jaja«, sagte Tony.»Alles gut.Aber lassen Sie mich das eine fragen …Was geht Sie das eigentlich an?Sie sind ja gar kein Preuße …«

»Ach, das ist alles eins, Fräulein Buddenbrook! Ja, ich nenne Ihren Familiennamen, und zwar mit Absicht … und ich müßte eigentlich noch ›Demoiselle‹ Buddenbrook sagen, damit Ihnen Ihr ganzes Recht wird! Sind bei uns etwa die Menschen freier, gleicher, brüderlicher als in Preußen? Schranken, Abstand, Aristokratie – hier wie dort!… Sie haben Sympathie für die Adligen … soll ich Ihnen sagen warum? Weil Sie selbst eine Adlige sind! Ja–ha, haben Sie das noch nicht gewußt?… Ihr Vater ist ein großer Herr, und Sie sind eine Prinzeß. Ein Abgrund trennt Sie von uns anderen, die wir nicht zu Ihrem Kreise von herrschenden Familien gehören.Sie können wohl einmal mit einem von uns zur Erholung ein bißchen an der See spazieren gehen, aber wenn Sie wieder in Ihren Kreis der Bevorzugten und Auserwählten treten, dann kann man auf den Steinen sitzen …« Seine Stimme war ganz fremdartig erregt geworden.

»Morten«, sagte Tony traurig. »Nun haben Sie sich doch geärgert, wenn Sie auf den Steinen saßen! Ich habe Sie doch gebeten, sich vorstellen zu lassen … «

»Oh, Sie nehmen die Sache wieder als junge Dame, zu persönlich, Fräulein Tony! Ich spreche doch im Prinzip … Ich sage, daß bei uns nicht mehr brüderliche Menschlichkeit herrscht als in Preußen … Und wenn ich persönlich spräche«, fuhr er nach einer kleinen Pause mit leiserer Stimme fort, aus der aber die eigentümliche Erregung nicht verschwunden war, »so würde ich nicht die Gegenwart meinen, sondern eher vielleicht die Zukunft, … wenn Sie als eine Madame So und So einmal endgültig in Ihrem vornehmen Bereich verschwinden werden und … man Zeit seines Lebens auf den Steinen sitzen kann … «

Er schwieg, und auch Tony schwieg.Sie blickte ihn nicht mehr an, sondern nach der anderen Seite, auf die Bretterwand neben ihr.Es herrschte ziemlich lange eine beklommene Stille.

»Erinnern Sie sich«, fing Morten wieder an, »daß ich Ihnen einmal sagte, ich hätte eine Frage an Sie zu richten?Ja, die beschäftigt mich seit dem ersten Nachmittage, als Sie hier ankamen, müssen Sie wissen …Raten Sie nur nicht!Sie können unmöglich wissen, was ich meine.Ich frage ein anderes Mal, bei Gelegenheit; es hat keine Eile, es geht mich im Grunde gar nichts an, es ist bloß Neugierde …Nein, heute will ich Ihnen nur das eine verraten …etwas anderes …Sehen Sie mal.«

Hierbei zog Morten aus einer Tasche seiner Joppe das Ende eines schmalen, buntgestreiften Bandes hervor und sah mit einem Gemisch von Erwartung und Triumph in Tonys Augen.

»Wie hübsch«, sagte sie verständnislos.»Was bedeutet das?«

Morten aber sprach feierlich: »Das bedeutet, daß ich in Göttingen einer Burschenschaftsverbindung angehöre – nun wissen Sie es! Ich habe auch eine Mütze in diesen Farben, aber die habe ich für die Ferienzeit dem Gerippe in der Polizistenuniform aufgesetzt …denn hier dürfte ich mich nicht damit sehen lassen, verstehen Sie …Ich kann doch darauf rechnen, daß Sie reinen Mund halten?Wenn mein Vater von der Sache erführe, so gäbe es ein Unglück …«

»Kein Wort, Morten!Nein, auf mich können Sie zählen!…Aber ich weiß gar nichts davon …Sind Sie alle gegen die Adligen verschworen?…Was wollen Sie?«

»Wir wollen die Freiheit!« sagte Morten.

»Die Freiheit?« fragte sie.

»Nun ja, die Freiheit, wissen Sie, die Freiheit …!« wiederholte er, indem er eine vage, ein wenig linkische, aber begeisterte Armbewegung hinaus, hinunter, über die See hin vollführte, und zwar nicht nach jener Seite, wo die mecklenburgische Küste die Bucht beschränkte, sondern dorthin, wo das Meer offen war, wo es sich in immer schmaler werdenden grünen, blauen, gelben und grauen Streifen leicht gekräuselt, großartig und unabsehbar dem verwischten Horizont entgegendehnte …

Tony folgte mit den Augen der Richtung seiner Hand; und während nicht viel fehlte, daß beider Hände, die nebeneinander auf der rauhen Holzbank lagen, sich vereinigten, blickten sie gemeinsam in dieselbe Ferne.Sie schwiegen lange, indes das Meer ruhig und schwerfällig zu ihnen heraufrauschte …und Tony glaubte plötzlich einig zu sein mit Morten in einem großen, unbestimmten, ahnungsvollen und sehnsüchtigen Verständnis dessen, was »Freiheit« bedeutete.

Neuntes Kapitel

»Es ist merkwürdig, daß man sich an der See nicht langweilen kann, Morten.Liegen Sie einmal an einem anderen Orte drei oder vier Stunden lang auf dem Rücken, ohne etwas zu tun, ohne auch nur einem Gedanken nachzuhängen …«

»Ja, ja …Übrigens muß ich gestehen, daß ich mich früher manchmal gelangweilt habe, Fräulein Tony; aber das ist einige Wochen her …«

Der Herbst kam, der erste starke Wind hatte sich aufgemacht. Graue, dünne und zerrissene Wolken flatterten eilig über den Himmel. Die trübe, zerwühlte See war weit und breit mit Schaum bedeckt. Große, starke Wogen wälzten sich mit einer unerbittlichen und furchteinflößenden Ruhe heran, neigten sich majestätisch, indem sie eine dunkelgrüne, metallblanke Rundung bildeten, und stürzten lärmend über den Sand.

Die Saison war völlig zu Ende.Der Teil des Strandes, den sonst die Menge der Badegäste bevölkerte und wo jetzt die Pavillons zum Teile schon abgebrochen waren, lag mit wenigen Sitzkörben fast ausgestorben da.Aber Tony und Morten lagerten nachmittags in einer entfernten Gegend: dort, wo die gelben Lehmwände begannen, und wo die Wellen am »Möwenstein« ihren Gischt hoch emporschleuderten.Morten hatte ihr einen festgeklopften Sandberg getürmt: daran lehnte sie mit dem Rücken, die Füße in Kreuzbandschuhen und weißen Strümpfen übereinandergelegt, in ihrer weichen grauen Herbstjacke mit großen Knöpfen; Morten, ihr zugewandt, lag, das Kinn in die Hand gestützt, auf der Seite.Eine Möwe schoß dann und wann über die See und ließ ihren Raubvogelschrei vernehmen.Sie sahen die grünen, mit Seegras durchwachsenen Wände der Wellen an, die drohend daherkamen und an dem Steinblock zerbarsten, der sich ihnen entgegenstellte …in diesem irren, ewigen Getöse, das betäubt, stumm macht und das Gefühl der Zeit ertötet.

Endlich machte Morten eine Bewegung, als ob er sich selbst erweckte, und fragte: »Nun werden Sie wohl bald abreisen, Fräulein Tony?«

»Nein …wieso?« sagte Tony abwesend und ohne Verständnis.

»Ja, mein Gott, wir haben den zehnten September, … meine Ferien sind ohnehin bald zu Ende … wie lange kann das noch dauern! Freuen Sie sich auf die Gesellschaften in der Stadt …? Sagen Sie mal: Es sind wohl liebenswürdige Herren, mit denen Sie tanzen … Nein, das wollte ich auch nicht fragen! Jetzt müssen Sie mir eines beantworten«, sagte er, indem er mit plötzlichem Entschlusse sein Kinn in der Hand zurechtrückte und sie anblickte. »Es ist die Frage, die ich so lange aufgespart habe, …wissen Sie?Nun!Wer ist Herr Grünlich?«

Tony fuhr zusammen, sah ihm rasch ins Gesicht und ließ dann ihre Augen umherschweifen wie jemand, der an einen fernen Traum erinnert wird.Dabei wurde das Gefühl in ihr lebendig, das sie in der Zeit nach Herrn Grünlichs Werbung erprobt hatte: Das Gefühl persönlicher Wichtigkeit.

»Das wollen Sie wissen, Morten? « fragte sie ernst. »Nun, dann will ich es Ihnen sagen. Es war mir zwar höchst peinlich, verstehen Sie, daß Thomas den Namen am ersten Nachmittage erwähnte; aber da Sie ihn einmal gehört haben … genug: Herr Grünlich, Bendix Grünlich, das ist ein Geschäftsfreund meines Vaters, ein wohlsituierter Kaufmann aus Hamburg, der in der Stadt um meine Hand angehalten hat … aber nein! « antwortete sie rasch auf eine Bewegung Mortens, »ich habe ihn zurückgewiesen, ich habe mich nicht entschließen können, ihm mein Jawort fürs Leben zu erteilen. «

»Und warum nicht …wenn ich fragen darf?« sagte Morten ungeschickt.

»Warum? O Gott, weil ich ihn nicht ausstehen konnte! « rief sie beinahe entrüstet … »Sie hätten ihn kennen sollen, wie er aussah und wie er sich benahm! Unter anderem hatte er goldgelbe Favoris … völlig unnatürlich! Ich bin überzeugt, daß er sich mit dem Pulver frisierte, mit dem man die Weihnachtsnüsse vergoldet … Außerdem war er falsch. Er schwänzelte um meine Eltern herum und sprach ihnen in schamloser Weise nach dem Munde … «

Morten unterbrach sie.

»Aber was heißt …Sie müssen mir noch eines sagen …was heißt: Das putzt ganz ungemein?«

Tony geriet in ein nervöses und kicherndes Lachen.

»Ja … so sprach er, Morten! Er sagte nicht: ›Das nimmt sich gut aus‹, oder: ›Das schmückt das Zimmer‹, sondern: ›Das putzt ganz ungemein‹ … so albern war er, ich versichere Sie!… Dabei war er im höchsten Grade aufdringlich; er ließ nicht von mir ab, obgleich ich ihn niemals anders als mit Ironie behandelte. Einmal machte er mir eine Szene, bei der er beinahe weinte …ich bitte Sie: ein Mann, der weint …«

»Er muß Sie sehr verehrt haben«, sagte Morten leise.

»Aber was ging das mich an! « rief sie erstaunt, indem sie sich an ihrem Sandberg zur Seite wandte …

»Sie sind grausam, Fräulein Tony …Sind Sie immer grausam?Sagen Sie mir …Sie haben diesen Herrn Grünlich nicht leiden können, aber sind Sie jemals einem anderen zugetan gewesen?…Manchmal denke ich: Haben Sie vielleicht ein kaltes Herz?Eines will ich Ihnen sagen …es ist so wahr, daß ich es Ihnen beschwören kann: Ein Mann ist nicht albern, weil er darüber weint, daß Sie nichts von ihm wissen wollen …das ist es.Ich bin nicht sicher, durchaus nicht sicher, daß ich nicht ebenfalls …Sehen Sie, Sie sind ein verwöhntes, vornehmes Geschöpf …Mokieren Sie sich immer nur über die Leute, die zu Ihren Füßen liegen?Haben Sie wirklich ein kaltes Herz?«

Nach der kurzen Heiterkeit begann nun plötzlich Tonys Oberlippe zu zittern.Sie richtete ein Paar großer und betrübter Augen auf ihn, die langsam blank von Tränen wurden, und sagte leise: »Nein, Morten, glauben Sie das von mir?…Das müssen Sie nicht von mir glauben.«

»Ich glaube es ja auch nicht!« rief Morten mit einem Lachen, in dem Ergriffenheit und mühsam unterdrückter Jubel zu hören war …Er wälzte sich völlig herum, so daß er nun auf dem Bauche neben ihr lag, ergriff, indem er die Ellenbogen aufstützte, mit beiden Händen die ihre und sah mit seinen stahlblauen, gutmütigen Augen entzückt und begeistert in ihr Gesicht.

»Und Sie …Sie mokieren sich nicht über mich, wenn ich Ihnen sage, daß …«

»Ich weiß, Morten«, unterbrach sie ihn leise, während sie seitwärts auf ihre freie Hand blickte, die langsam den weichen, weißen Sand durch die Finger gleiten ließ.

»Sie wissen …! Und Sie … Sie, Fräulein Tony …«

»Ja, Morten.Ich halte große Stücke auf Sie.Ich habe Sie sehr gern.Ich habe Sie lieber als alle, die ich kenne.«

Er fuhr auf, er machte ein paar Armbewegungen und wußte nicht, was er tun sollte. Er sprang auf die Füße, warf sich sofort wieder bei ihr nieder und rief mit einer Stimme, die stockte, wankte, sich überschlug und wieder tönend wurde vor Glück: »Ach, ich danke Ihnen, ich danke Ihnen! Sehen Sie, nun bin ich so glücklich, wie noch niemals in meinem Leben!… « Dann fing er an, ihre Hände zu küssen.

Plötzlich sagte er leiser: »Sie werden nun bald nach der Stadt abreisen, Tony, und meine Ferien sind in vierzehn Tagen zu Ende …dann muß ich wieder nach Göttingen.Aber wollen Sie mir versprechen, daß Sie diesen Nachmittag hier am Strande nicht vergessen werden, bis ich zurückkomme …und Doktor bin …und bei Ihrem Vater für uns bitten kann, so schwer es sein wird?Und daß Sie unterdessen keinen Herrn Grünlich erhören werden?…Oh, es wird nicht lange dauern, passen Sie auf!Ich werde arbeiten, wie ein …und es ist gar nicht schwer …«

»Ja, Morten«, sagte sie glücklich und abwesend, indem sie seine Augen, seinen Mund und seine Hände betrachtete, die die ihren hielten …

Er zog ihre Hand noch näher an seine Brust und fragte gedämpft und bittend: »Wollen Sie mir daraufhin nicht …Darf ich das nicht …bekräftigen …?«

Sie antwortete nicht, sie sah ihn nicht einmal an, sie schob nur ganz leise ihren Oberkörper am Sandberg ein wenig näher zu ihm hin, und Morten küßte sie langsam und umständlich auf den Mund.Dann sahen sie nach verschiedenen Richtungen in den Sand und schämten sich über die Maßen.

Zehntes Kapitel

»Teuerste Demoiselle Buddenbrook!

Wie lange ist es her, daß Unterzeichneter das Angesicht des reizendsten Mädchens nicht mehr erblicken durfte? Diese so wenigen Zeilen sollen Ihnen sagen, daß dieses Angesicht nicht aufgehört hat, vor seinem geistigen Auge zu schweben, daß er während dieser hangenden und bangenden Wochen unablässig eingedenk gewesen ist des köstlichen Nachmittags in Ihrem elterlichen Salon, an dem Sie sich ein Versprechen, ein halbes und verschämtes zwar noch, und doch so beseligendes entschlüpfen ließen.Seitdem sind lange Wochen verflossen, während derer Sie sich behufs Sammlung und Selbsterkenntnis von der Welt zurückgezogen haben, so daß ich nun wohl hoffen darf, daß die Zeit der Prüfung vorüber ist.Endesunterfertigter erlaubt sich, Ihnen, teuerste Demoiselle, mitfolgendes Ringlein als Unterpfand seiner unsterblichen Zärtlichkeit hochachtungsvollst zu übersenden.Mit den devotesten Komplimenten und liebevollsten Handküssen zeichne als

Dero Hochwohlgeboren ergebenster
Grünlich. «

»Lieber Papa!

O Gott, wie habe ich mich geärgert! Beifolgenden Brief und Ring erhielt ich soeben von Gr. , so daß ich Kopfweh vor Aufregung habe, und weiß ich nichts Besseres zu tun, als beides an Dich zurückgehen zu lassen. Gr. will mich nicht verstehen, und ist das, was er so poetisch von dem ›Versprechen‹ schreibt, einfach nicht der Fall, und bitte ich Dich so dringend, ihm nun doch kurzerhand plausibel zu machen, daß ich jetzt noch tausendmal weniger als vor sechs Wochen in der Lage bin, ihm mein Jawort fürs Leben zu erteilen und daß er mich endlich in Frieden lassen soll, er macht sich ja lächerlichDir, dem besten Vater, kann ich es ja sagen, daß ich anderweitig gebunden bin an jemanden, der mich liebt, und den ich liebe, daß es sich gar nicht sagen läßt.O Papa!Darüber könnte ich viele Bogen vollschreiben, ich spreche von Herrn Morten Schwarzkopf, der Arzt werden will, und, sowie er Doktor ist, um meine Hand anhalten will.Ich weiß ja, daß es Sitte ist, einen Kaufmann zu heiraten, aber Morten gehört eben zu dem anderen Teil von angesehenen Herren, den Gelehrten.Er ist nicht reich, was wohl für Dich und Mama gewichtig ist, aber das muß ich Dir sagen, lieber Papa, so jung ich bin, aber das wird das Leben manchen gelehrt haben, daß Reichtum allein nicht immer jeden glücklich macht.Mit tausend Küssen verbleibe ich

Deine gehorsame Tochter
Antonie.

PS. Der Ring ist niedriges Gold und ziemlich schmal, wie ich sehe. «

»Meine liebe Tony!

Dein Schreiben ist mir richtig geworden. Auf seinen Gehalt eingehend, teile ich Dir mit, daß ich pflichtgemäß nicht ermangelt habe, Herrn Gr. über Deine Anschauung der Dinge in geziemender Form zu unterrichten; das Resultat jedoch war derartig, daß es mich aufrichtig erschüttert hat. Du bist ein erwachsenes Mädchen und befindest Dich in einer so ernsten Lebenslage, daß ich nicht anstehen darf, Dir die Folgen namhaft zu machen, die ein leichtfertiger Schritt Deinerseits nach sich ziehen kann. Herr Gr. nämlich brach bei meinen Worten in Verzweiflung aus, indem er rief, so sehr liebe er Dich und so wenig könne er Deinen Verlust verschmerzen, daß er willens sei, sich das Leben zu nehmen, wenn Du auf Deinem Entschlusse bestündest. Da ich das, was Du mir von einer anderweitigen Neigung schreibst, nicht ernst nehmen kann, so bitte ich Dich, Deine Erregung über den zugesandten Ring zu bemeistern und alles noch einmal bei Dir selbst mit Ernst zu erwägen. Meiner christlichen Überzeugung nach, liebe Tochter, ist es des Menschen Pflicht, die Gefühle eines anderen zu achten, und wir wissen nicht, ob Du nicht einst würdest von einem höchsten Richter dafür haftbar gemacht werden, daß der Mann, dessen Gefühle Du hartnäckig und kalt verschmähtest, sich gegen sein eigenes Leben versündigte. Das eine aber, welches ich Dir mündlich schon oft zu verstehen gegeben, möchte ich Dir ins Gedächtnis zurückrufen und freue ich mich, Gelegenheit zu haben, es Dir schriftlich zu wiederholen. Denn obgleich die mündliche Rede lebendiger und unmittelbarer wirken mag, so hat doch das geschriebene Wort den Vorzug, daß es mit Muße gewählt und gesetzt werden konnte, daß es feststeht und in dieser vom Schreibenden wohl erwogenen und berechneten Form und Stellung wieder und wieder gelesen werden und gleichmäßig wirken kann. – Wir sind, meine liebe Tochter, nicht dafür geboren, was wir mit kurzsichtigen Augen für unser eigenes, kleines, persönliches Glück halten, denn wir sind nicht lose, unabhängige und für sich bestehende Einzelwesen, sondern wie Glieder in einer Kette, und wir wären, so wie wir sind, nicht denkbar ohne die Reihe derjenigen, die uns vorangingen und uns die Wege wiesen, indem sie ihrerseits mit Strenge und ohne nach rechts oder links zu blicken, einer erprobten und ehrwürdigen Überlieferung folgten.Dein Weg, wie mich dünkt, liegt seit längeren Wochen klar und scharf abgegrenzt vor Dir, und du müßtest nicht meine Tochter sein, nicht die Enkelin Deines in Gott ruhenden Großvaters und überhaupt nicht ein würdig Glied unserer Familie, wenn Du ernstlich im Sinne hättest, Du allein, mit Trotz und Flattersinn Deine eigenen, unordentlichen Pfade zu gehen.Dies, meine liebe Antonie, bitte ich Dich, in Deinem Herzen zu bewegen.

Deine Mutter, Thomas, Christian, Klara und Klothilde (welch letztere mehrere Wochen bei ihrem Vater auf Ungnade verlebt hat), auch Mamsell Jungmann grüßen Dich von ganzem Herzen; wir freuen uns alle, Dich bald wieder in unsere Arme schließen zu können.

In treuer Liebe
Dein Vater. «

Elftes Kapitel

Es regnete in Strömen.Himmel, Erde und Wasser verschwammen ineinander, während der Stoßwind in den Regen fuhr und ihn gegen die Fensterscheiben trieb, daß nicht Tropfen, sondern Bäche daran hinunterflossen und sie undurchsichtig machten.Klagende und verzweifelnde Stimmen redeten in den Ofenröhren …

Als Morten Schwarzkopf bald nach dem Mittagessen mit seiner Pfeife vor die Veranda trat, um nachzusehen, wie es mit dem Himmel bestellt sei, stand ein Herr in langem, engem, gelbkariertem Ülster und grauem Hute vor ihm; eine geschlossene Droschke, deren Verdeck vor Nässe glänzte und deren Räder so mit Kot besprengt waren, hielt vorm Hause.Morten starrte fassungslos in das rosige Gesicht des Herrn.Er hatte Bartkotelettes, die aussahen, als seien sie mit dem Pulver frisiert, mit dem man die Weihnachtsnüsse vergoldet.

Der Herr im Ülster sah Morten an, wie man einen Bedienten ansieht, leicht blinzelnd, ohne ihn zu sehen, und fragte mit weicher Stimme: »Ist der Herr Lotsenkommandeur zu sprechen? «

»Allerdings …« stammelte Morten, »ich glaube, daß mein Vater …«

Hier faßte ihn der Herr ins Auge; seine Augen waren so blau wie diejenigen einer Gans.

»Sind Sie Herr Morten Schwarzkopf?« fragte er …

»Ja, mein Herr«, antwortete Morten, indem er sich anstrengte, einen festen Gesichtsausdruck zu gewinnen.

»Sieh da!In der Tat …« bemerkte der Herr im Ülster, und dann fuhr er fort: »Haben Sie die Güte, mich Ihrem Herrn Vater zu melden, junger Mann.Mein Name ist Grünlich.«

Morten führte den Herrn durch die Veranda, öffnete ihm im Korridor rechterhand die Tür zum Bureau, und kehrte ins Wohnzimmer zurück, um seinen Vater zu benachrichtigen.Während Herr Schwarzkopf hinausging, ließ der junge Mensch sich an dem runden Tische nieder, stützte die Ellenbogen darauf und schien sich, ohne seine Mutter anzusehen, die am trüben Fenster mit dem Stopfen von Strümpfen beschäftigt war, in das »klägliche Blättchen« zu vertiefen, das von nichts anderem als der silbernen Hochzeit des Konsuls So und So zu berichten wußte.– Tony befand sich droben in ihrem Zimmer, um auszuruhen.

Der Lotsenkommandeur betrat sein Büro mit der Miene eines Mannes, der mit dem Mittagessen zufrieden ist, das er zu sich genommen.Sein Uniformrock, über der gewölbten weißen Weste, stand offen.Von seinem roten Gesicht hob sich scharf der eisgraue Schifferbart ab.Seine Zunge fuhr behaglich zwischen den Zähnen umher, wobei sein biederer Mund in die abenteuerlichsten Stellungen geriet.Er verbeugte sich kurz, ruckartig und mit einem Ausdruck, als wollte er sagen: So macht man es ja wohl!

»Gesegnete Mahlzeit«, sagte er; »dem Herrn zu Diensten!«

Herr Grünlich, von seiner Seite, verneigte sich mit Bedacht, indem seine Mundwinkel sich ein wenig abwärts zogen.Hierbei sagte er leise: »Hä-ä-hm.«

Das Bureau war eine ziemlich kleine Stube, deren Wände einige Fuß hoch mit Holz bekleidet waren und im übrigen den untapezierten Kalk zeigten. Vor dem Fenster, an welches unablässig der Regen trommelte, hingen gelbgerauchte Gardinen. Rechterhand von der Tür befand sich ein langer, roher, mit Papieren bedeckter Tisch, über welchem eine große Karte von Europa und eine kleinere der Ostsee an der Wand befestigt war. Von der Mitte der Zimmerdecke hing das sauber gearbeitete Modell eines Schiffes unter vollen Segeln herab.

Der Lotsenkommandeur nötigte seinen Gast auf das geschweifte, mit schwarzem, zersprungenem Wachstuch bezogene Sofa, das der Tür gegenüberstand, und machte es sich selbst mit über dem Bauch gefalteten Händen in einem hölzernen Armstuhl bequem, während Herr Grünlich in fest geschlossenem Ülster, den Hut auf den Knien, ohne die Rückenlehne zu berühren, genau auf der Kante des Sofas saß.

»Mein Name«, sagte er, »ist, wie ich wiederhole, Grünlich, Grünlich von Hamburg.Um mich Ihnen zu empfehlen, erwähne ich, daß ich mich einen nahen Geschäftsfreund des Großhändlers Konsul Buddenbrook nennen darf.«

»Allabonöhr!Ist mir eine Ehre, Herr Grünlich!Aber wollen der Herr sich's nicht ein bißchen bequemer machen?Einen Grog nach der Fahrt?Ich rufe sofort in die Küche …«

»Ich erlaube mir, Ihnen zu bemerken«, sprach Herr Grünlich mit Ruhe, »daß meine Zeit gemessen ist, daß mein Wagen mich erwartet, und daß ich lediglich genötigt bin, Sie um eine Unterredung von zwei Worten zu ersuchen.«

»Dem Herrn zu Diensten«, wiederholte Herr Schwarzkopf ein wenig eingeschüchtert.Es entstand eine Pause.

»Herr Kommandeur!« begann Herr Grünlich, indem er den Kopf mit Entschlossenheit schüttelte und ihn dabei ein wenig zurückwarf.Dann schwieg er aufs neue, um die Wirkung dieser Anrede zu verstärken; er schloß seinen Mund dabei so fest wie einen Geldbeutel, den man mit Schnüren zusammenzieht.

»Herr Kommandeur«, wiederholte er und sagte dann rasch: »Die Angelegenheit, in der ich zu Ihnen komme, betrifft unmittelbar die junge Dame, die seit einigen Wochen in Ihrem Hause wohnt.«

»Mamsell Buddenbrook?« fragte Herr Schwarzkopf …

»Allerdings«, versetzte Herr Grünlich tonlos und mit gesenktem Kopfe; an seinen Mundwinkeln bildeten sich straffe Fältchen.

»Ich …sehe mich veranlaßt, Ihnen zu eröffnen«, fuhr er mit leichthin trällernder Betonung fort, indem seine Augen mit ungeheurer Aufmerksamkeit von einem Punkt des Zimmers auf einen anderen und dann zum Fenster sprangen, »daß ich vor einiger Zeit um die Hand eben dieser Demoiselle Buddenbrook angehalten habe, daß ich mich im vollen Besitz der beiderseitigen elterlichen Zustimmung befinde, und daß das Fräulein selbst mir, ohne daß zwar die Verlobung bereits in aller Form stattgefunden hätte, mit unzweideutigen Worten Anrechte auf ihre Hand gegeben hat.«

»Wahrhaftigen Gott?« fragte Herr Schwarzkopf lebhaft …»Davon hab' ich noch gar nichts gewußt!Gratuliere, Herr …Grünlich!Gratuliere Ihnen aufrichtig!Da haben Sie was Gutes, was Reelles …«

»Sehr obligiert«, sagte Herr Grünlich mit kaltem Nachdruck. »Was mich jedoch«, fuhr er mit singend erhobener Stimme fort, »in dieser Angelegenheit zu Ihnen führt, mein werter Herr Kommandeur, ist der Umstand, daß sich dieser Verbindung ganz neuerdings Schwierigkeiten in den Weg stellen, und daß diese Schwierigkeiten … von Ihrem Hause ausgehen –? « Die letzten Worte sprach er mit fragender Betonung, als wollte er sagen: Kann es möglich sein, was mir zu Ohren gekommen ist?

Herr Schwarzkopf antwortete ausschließlich dadurch, daß er seine ergrauten Augenbrauen hoch in die Stirne zog und mit beiden Händen, braunen, blondbehaarten Schifferhänden, die Armlehnen seines Stuhles ergriff.

»Ja. In der Tat. So höre ich«, sprach Herr Grünlich mit trauriger Bestimmtheit. »Ich höre, daß Ihr Sohn, der Herr Studiosus Medicinä es sich … unwissentlich zwar … gestattet hat, in meine Rechte einzugreifen, ich höre, daß er die hiesige Anwesenheit des Fräuleins dazu benutzt hat, ihr gewisse Versprechungen abzugewinnen …«

»Was? « rief der Lotsenkommandeur, indem er sich heftig auf die Armlehnen stützte und emporsprang … »Da soll doch gleich … I, dat wier je denn doch woll … « Und mit zwei Schritten war er an der Tür, riß sie auf und rief mit einer Stimme über den Korridor, welche die ärgste Brandung übertönt hätte: »Meta! Morten! Tretet mal an! Tretet mal alle beide an! «

»Ich würde lebhaft bedauern«, sprach Herr Grünlich mit einem feinen Lächeln, »wenn ich durch die Geltendmachung meiner älteren Rechte Ihre eigenen väterlichen Pläne durchkreuzen sollte, Herr Kommandeur …«

Diederich Schwarzkopf wandte sich um und starrte ihm mit seinen scharfen, von kleinen Fältchen umgebenen blauen Augen ins Gesicht, als bemühte er sich vergebens, seine Worte zu verstehen.

»Herr!« sagte er dann mit einer Stimme, die klang, als hätte soeben ein scharfer Schluck Grog seine Kehle verbrannt …»Ich bin man'n einfachen Mann und versteh mich schlecht auf Medisangsen und Finessen …aber wenn Sie vielleicht meinen sollten, daß …na!denn lassen Sie sich gesagt sein, daß Sie auf dem Holzwege sind, Herr, und daß Sie sich über meine Grundsätze täuschen!Ich weiß, wer mein Sohn ist, und weiß, wer Mamsell Buddenbrook ist, und ich habe zuviel Respekt und auch zuviel Stolz im Leibe, Herr, um solche väterlichen Pläne zu machen!Und nun redet mal, nun antwortet mir mal!Was ist das eigentlich, wie?Was höre ich da eigentlich, was?…«

Frau Schwarzkopf und ihr Sohn standen in der Tür; die erstere ahnungslos, mit dem Ordnen ihrer Schürze beschäftigt, Morten mit der Miene eines verstockten Sünders …Herr Grünlich hatte sich bei ihrem Eintritt keineswegs erhoben; er verharrte in gerader und ruhevoller Haltung fest in seinen Ülster geknöpft auf der Sofakante.

»Du hast dich also wie ein dummer Junge betragen?« fuhr der Lotsenkommandeur Morten an.

Der junge Mensch hielt einen Daumen zwischen den Knöpfen seiner Joppe; er machte finstere Augen und hatte vor Trotz sogar seine Wangen aufgeblasen.

»Ja, Vater«, sagte er, »Fräulein Buddenbrook und ich … «

»So, na, denn will 'k di man vertellen, daß du 'n Döskopp büs', 'n Hanswurst, 'n groten Dummerjahn!Und daß du morgen nach Göttingen abkutschierst, hörst du wohl?morgenden Tages!Und daß das Ganze 'n Kinderkram ist, ein nichtsnutziger Kinderkram und damit Punktum!«

»Diederich, mein Gott«, sagte Frau Schwarzkopf, indem sie die Hände faltete; »das kann man doch nicht so ohne weiteres sagen!Wer weiß …« Sie schwieg und man sah, wie eine schöne Hoffnung vor ihren Augen zusammenstürzte.

»Wünschen der Herr das Fräulein zu sprechen?« wandte sich der Lotsenkommandeur mit rauher Stimme an Herrn Grünlich …

»Sie ist in ihrem Zimmer!Sie schläft!« erklärte Frau Schwarzkopf mitleidig und gerührt.

»Das bedaure ich«, sagte Herr Grünlich, obgleich er ein wenig aufatmete, und erhob sich.»Übrigens wiederhole ich, daß meine Zeit gemessen ist und daß mein Wagen mich erwartet.Ich gestatte mir«, fuhr er fort, indem er vor Herrn Schwarzkopf mit dem Hute eine Bewegung von oben nach unten beschrieb, »Ihnen, Herr Kommandeur, meine vollste Genugtuung und Anerkennung angesichts Ihres männlichen und charaktervollen Benehmens auszusprechen.Ich empfehle mich Ihnen.Ich habe die Ehre.Adieu.«

Diederich Schwarzkopf reichte ihm keineswegs die Hand: Er ließ nur kurz und ruckartig seinen schweren Oberkörper ein wenig nach vorne fallen, als wollte er sagen: So macht man es ja wohl!

Zwischen Morten und seiner Mutter hindurch ging Herr Grünlich gemessenen Schrittes zur Tür hinaus.

Zwölftes Kapitel

Thomas erschien mit der Krögerschen Kalesche.Der Tag war da.

Der junge Herr kam um zehn Uhr des Vormittags und nahm einen kleinen Imbiß mit der Familie in der Wohnstube. Man saß beieinander wie am ersten Tage; nur daß der Sommer dahin war, daß es zu kalt und windig war, in der Veranda zu sitzen und daß Morten fehlte …Er war in Göttingen.Tony und er hatten nicht einmal ordentlich Abschied voneinander genommen.Der Lotsenkommandeur hatte dabeigestanden und gesagt: »So, Punktum.Hü.«

Um elf Uhr stiegen die Geschwister in den Wagen, an dessen hinterem Teile Tonys großer Koffer festgeschnallt worden war.Sie war blaß und fröstelte in ihrer weichen Herbstjacke vor Kälte, Müdigkeit, Reisefieber und einer Wehmut, die dann und wann plötzlich in ihr aufstieg und ihre Brust mit einem drängenden Schmerzgefühl erfüllte.Sie küßte die kleine Meta, drückte der Hausfrau die Hand und nickte Herrn Schwarzkopf zu, als er sagte: »Na, vergessen Sie uns nicht, Mamselling.Und nichts für ungut, was?«

»So, und glückliche Reise und beste Empfehlungen an den Herrn Papa und die Frau Konsulin …« Dann schnappte der Schlag ins Schloß, die dicken Braunen zogen an, und die drei Schwarzkopfs schwenkten ihre Tücher …

Tony drückte den Kopf in die Wagenecke und sah zum Fenster hinaus. Der Himmel war weißlich bedeckt, die Trave warf kleine Wellen, die schnell vor dem Winde dahineilten. Dann und wann prickelten kleine Tropfen gegen die Scheiben. Am Ausgang der »Vorderreihe« saßen die Leute vor ihren Haustüren und flickten Netze; barfüßige Kinder kamen herbeigelaufen und betrachteten neugierig den Wagen. Die blieben hier …

Als der Wagen die letzten Häuser zurückließ, beugte Tony sich vor, um noch einmal den Leuchtturm zu sehen; dann lehnte sie sich zurück und schloß die Augen, die müde und empfindlich waren.Sie hatte in der Nacht fast nicht geschlafen vor Erregung, war früh aufgestanden, um ihren Koffer in Ordnung zu bringen, und hatte nicht frühstücken mögen.In ihrem ausgetrockneten Munde hatte sie einen faden Geschmack.Sie fühlte sich so hinfällig, daß sie es nicht einmal versuchte, die Tränen zurückzudrängen, die jeden Augenblick langsam und heiß in ihre Augen emporstiegen.

Kaum hatte sie ihre Lider geschlossen, als sie sich wieder in Travemünde in der Veranda befand. Sie sah Morten Schwarzkopf leibhaftig vor sich, wie er zu ihr sprach, sich nach seiner Art dabei vorbeugte und hie und da einen anderen gutmütig forschend ansah; wie er lachend seine schönen Zähne zeigte, von denen er ersichtlich gar nichts wußte … und es wurde ihr ganz ruhig und heiter dabei zu Sinn. Sie rief sich alles ins Gedächtnis zurück, was sie in vielen Gesprächen von ihm gehört und erfahren hatte, und es bereitete ihr eine beglückende Genugtuung, sich feierlich zu versprechen, daß sie dies alles als etwas Heiliges und Unantastbares in sich bewahren wollte. Daß der König von Preußen ein großes Unrecht begangen, daß die Städtischen Anzeigen ein klägliches Blättchen seien, ja selbst, daß vor vier Jahren die Bundesgesetze über die Universitäten erneuert worden, das würden ihr fortan ehrwürdige und tröstliche Wahrheiten sein, ein geheimer Schatz, den sie würde betrachten können, wann sie wollte. Mitten auf der Straße, im Familienkreise, beim Essen würde sie daran denken … Wer weiß? vielleicht würde sie ihren vorgezeichneten Weg gehen und Herrn Grünlich heiraten, das war ganz gleichgültig; aber wenn er zu ihr sprach, würde sie plötzlich denken: Ich weiß etwas, was du nicht weißt … Die Adeligen sind – im Prinzip gesprochen – verächtlich!

Sie lächelte zufrieden vor sich hin …Aber da, plötzlich, vernahm sie in dem Geräusch der Räder mit vollkommener, mit unglaublich lebendiger Deutlichkeit Mortens Sprache; sie unterschied jeden Laut seiner gutmütigen, ein wenig schwerfällig knarrenden Stimme, sie hörte mit leiblichem Ohr, wie er sagte: »Heute müssen wir beide auf den Steinen sitzen, Fräulein Tony …«, und diese kleine Erinnerung überwältigte sie.Ihre Brust zog sich zusammen vor Wehmut und Schmerz, ohne Gegenwehr ließ sie die Tränen hervorstürzen …In ihren Winkel gedrückt, hielt sie das Taschentuch mit beiden Händen vors Gesicht und weinte bitterlich.

Thomas, seine Zigarette im Munde, blickte ein wenig ratlos auf die Chaussee hinaus.

»Arme Tony!« sagte er schließlich, indem er ihre Jacke streichelte.»Du tust mir herzlich leid …ich verstehe dich so gut, siehst du!Aber was ist da zu tun?Dergleichen muß durchgemacht werden.Glaube mir nur …ich kenne das auch …«

»Ach, du kennst gar nichts, Tom!« schluchzte Tony.

»Na, sage das nicht. Jetzt steht es zum Beispiel fest, daß ich Anfang nächsten Jahres nach Amsterdam gehe. Papa hat eine Stelle für mich …bei van der Kellen & Comp. …Da werde ich Abschied nehmen müssen für lange, lange Zeit …«

»Ach, Tom!Ein Abschied von Eltern und Geschwistern!Das ist gar nichts!«

»Ja –!« sagte er ziemlich langgedehnt.Er atmete auf, als ob er noch mehr sagen wollte und schwieg dann.Indem er die Zigarette von einem Mundwinkel in den anderen wandern ließ, zog er eine Braue empor und wandte den Kopf zur Seite.

»Und es dauert ja nicht lange«, fing er nach einer Weile wieder an.»Das gibt sich.Man vergißt …«

»Aber ich will ja gerade nicht vergessen!« rief Tony ganz verzweifelt.»Vergessen …ist das denn ein Trost?!« –

Dreizehntes Kapitel

Dann kam die Fähre, es kam die Israelsdorfer Allee, der Jerusalemsberg, das Burgfeld. Der Wagen passierte das Burgtor, neben dem zur Rechten die Mauern des Gefängnisses aufragten, er rollte die Burgstraße entlang und über den Koberg … Tony betrachtete die grauen Giebelhäuser, die über die Straße gespannten Öllampen, das Heilige-Geist-Hospital mit den schon fast entblätterten Linden davor … Mein Gott, alles das war geblieben, wie es gewesen war! Es hatte hier gestanden, unabänderlich und ehrwürdig, während sie sich daran als an einen alten, vergessenswerten Traum erinnert hatte! Diese grauen Giebel waren das Alte, Gewohnte und Überlieferte, das sie wieder aufgenommen und in dem sie nun wieder leben sollte. Sie weinte nicht mehr; sie sah sich neugierig um. Das Abschiedsleid war beinahe betäubt, angesichts dieser Straßen und dieser altbekannten Gesichter darin. In diesem Augenblick – der Wagen rasselte durch die Breite Straße – ging der Träger Matthiesen vorüber und nahm tief seinen rauhen Zylinder ab mit einem so bärbeißigen Pflichtgesicht, als dächte er: Ich wäre ja wohl ein Hundsfott …!

Die Equipage bog in die Mengstraße ein und die dicken Braunen standen schnaubend und stampfend vorm Buddenbrookschen Hause. Tom war seiner Schwester aufmerksam beim Aussteigen behilflich, während Anton und Line herbeieilten, um den Koffer herunterzuschnallen.Aber man mußte warten, bevor man ins Haus gelangte.Drei mächtige Transportwagen schoben sich soeben dicht hintereinander durch die Haustür, hochbepackt mit vollen Kornsäcken, auf denen in breiten schwarzen Buchstaben die Firma »Johann Buddenbrook« zu lesen war.Mit schwerfällig widerhallendem Gepolter schwankten sie über die große Diele und die flachen Stufen zum Hofe hinunter.Ein Teil des Kornes sollte wohl im Hinterhause verladen werden und der Rest in den »Walfisch«, den »Löwen« oder die »Eiche« wandern …

Der Konsul kam, die Feder hinterm Ohr, aus dem Kontor heraus, als die Geschwister die Diele betraten, und streckte seiner Tochter die Arme entgegen.

»Willkommen zu Hause, meine liebe Tony!«

Sie küßte ihn und sah ihn mit Augen an, die noch verweint waren und in denen etwas wie Scham zu lesen war.Aber er war nicht böse, er erwähnte kein Wort.Er sagte nur: »Es ist spät, aber wir haben mit dem zweiten Frühstück gewartet.«

Die Konsulin, Christian, Klothilde, Klara und Ida Jungmann standen zur Begrüßung droben auf dem Treppenabsatz versammelt …


Tony schlief fest und gut die erste Nacht in der Mengstraße, und sie stieg am nächsten Morgen, den 22.September, erfrischt und ruhigen Sinnes ins Frühstückszimmer hinunter.Es war noch ganz früh, kaum sieben Uhr.Nur Mamsell Jungmann war schon anwesend und bereitete den Morgenkaffee.

»Ei, ei, Tonychen, mein Kindchen«, sagte sie und sah sich mit kleinen, verschlafenen braunen Augen um; »schon so zeitig?«

Tony setzte sich an den Sekretär, dessen Deckel zurückgeschoben war, faltete die Hände hinter dem Kopf und blickte eine Weile auf das vor Nässe schwarz glänzende Pflaster des Hofes und den vergilbten und feuchten Garten hinaus.Dann fing sie an, neugierig unter den Visitkarten und Briefschaften auf dem Sekretär zu kramen …

Dicht beim Tintenfaß lag das wohlbekannte große Schreibheft mit gepreßtem Umschlag, goldenem Schnitt und verschiedenartigem Papier. Es mußte noch gestern abend gebraucht worden sein, und ein Wunder nur, daß Papa es nicht wie gewöhnlich in der Ledermappe und in der besonderen Schublade dort hinten verschlossen hatte.

Sie nahm es, blätterte darin, geriet ins Lesen und vertiefte sich.Was sie las, waren meistens einfache und ihr vertraute Dinge; aber jeder der Schreibenden hatte von seinem Vorgänger eine ohne Übertreibung feierliche Vortragsweise übernommen, einen instinktiv und ungewollt angedeuteten Chronikenstil, aus dem der diskrete und darum desto würdevollere Respekt einer Familie vor sich selbst, vor Überlieferung und Historie sprach.Für Tony war das nichts Neues; sie hatte sich manchesmal mit diesen Blättern beschäftigen dürfen.Aber noch niemals hatte ihr Inhalt einen Eindruck auf sie gemacht, wie diesen Morgen.Die ehrerbietige Bedeutsamkeit, mit der hier auch die bescheidensten Tatsachen behandelt waren, die der Familiengeschichte angehörten, stieg ihr zu Kopf …Sie stützte die Ellenbogen auf und las mit wachsender Hingebung, mit Stolz und Ernst.

Auch in ihrer eigenen kleinen Vergangenheit fehlte kein Punkt.Ihre Geburt, ihre Kinderkrankheiten, ihr erster Schulgang, ihr Eintritt in Mlle.Weichbrodts Pensionat, ihre Konfirmation …Alles war in der kleinen, fließenden Kaufmannsschrift des Konsuls sorgfältig und mit einer fast religiösen Achtung vor Tatsachen überhaupt verzeichnet: Denn war nicht der geringsten eine Gottes Wille und Werk, der die Geschicke der Familie wunderbar gelenkt?…Was würde hier hinter ihrem Namen, den sie von ihrer Großmutter Antoinette empfangen hatte, in Zukunft noch zu berichten sein?Und alles würde von späteren Familiengliedern mit der nämlichen Pietät gelesen werden, mit der jetzt sie die früheren Begebnisse verfolgte.

Sie lehnte sich aufatmend zurück, und ihr Herz pochte feierlich. Ehrfurcht vor sich selbst erfüllte sie, und das Gefühl persönlicher Wichtigkeit, das ihr vertraut war, durchrieselte sie, verstärkt durch den Geist, den sie soeben hatte auf sich wirken lassen, wie ein Schauer.»Wie ein Glied in einer Kette«, hatte Papa geschrieben …ja, ja!Gerade als Glied dieser Kette war sie von hoher und verantwortungsvoller Bedeutung, – berufen, mit Tat und Entschluß an der Geschichte ihrer Familie mitzuarbeiten!

Sie blätterte zurück bis ans Ende des großen Heftes, wo auf einem rauhen Foliobogen die ganze Genealogie der Buddenbrooks mit Klammern und Rubriken in übersichtlichen Daten von des Konsuls Hand resümiert worden war: Von der Eheschließung des frühesten Stammhalters mit der Predigerstochter Brigitta Schuren bis zu der Heirat des Konsuls Johann Buddenbrook mit Elisabeth Kröger im Jahre 1825.Aus dieser Ehe, so hieß es, entsprossen vier Kinder …worauf mit den Geburtsjahren und -tagen die Taufnamen untereinander aufgeführt waren; hinter demjenigen des älteren Sohnes aber war bereits verzeichnet, daß er Ostern 1842 in das väterliche Geschäft als Lehrling eingetreten sei.

Tony blickte lange Zeit auf ihren Namen und auf den freien Raum dahinter.Und dann, plötzlich, mit einem Ruck, mit einem nervösen und eifrigen Mienenspiel – sie schluckte hinunter, und ihre Lippen bewegten sich einen Augenblick ganz schnell aneinander – ergriff sie die Feder, tauchte sie nicht, sondern stieß sie in das Tintenfaß und schrieb mit gekrümmtem Zeigefinger und tief auf die Schulter geneigtem, hitzigem Kopf, in ihrer ungelenken und schräg von links nach rechts emporfliegenden Schrift: »…Verlobte sich am 22.September 1845 mit Herrn Bendix Grünlich, Kaufmann zu Hamburg.«

Vierzehntes Kapitel

»Ich bin vollkommen Ihrer Meinung, mein werter Freund.Diese Frage ist von Wichtigkeit und muß erledigt werden.Kurz und gut: Die traditionelle Barmitgift für ein junges Mädchen aus unserer Familie beträgt 70000 Mark.«

Herr Grünlich warf seinem zukünftigen Schwiegervater den kurzen und prüfenden Seitenblick eines Geschäftsmannes zu.

»In der Tat … «, sagte er, und dieses In der Tat war genau so lang wie sein linker goldgelber Backenbart, den er bedächtig durch die Finger gleiten ließ …Er ließ die Spitze los, als das In der Tat vollendet war.

»Sie kennen«, fuhr er fort, »verehrter Vater, die tiefe Hochachtung, die ich ehrwürdigen Überlieferungen und Prinzipien entgegenbringe!Allein …sollte im gegenwärtigen Falle diese schöne Rücksicht nicht eine Übertreibung bedeuten?…Ein Geschäft vergrößert sich …eine Familie blüht empor …kurzum die Bedingungen werden andere und bessere …«

»Mein werter Freund«, sprach der Konsul …»Sie sehen in mir einen Geschäftsmann von Kulanz!Mein Gott …Sie haben mich nicht einmal ausreden lassen, sonst wüßten Sie bereits, daß ich willig und bereit bin, Ihnen den Umständen entsprechend entgegenzukommen, und daß ich den 70000 schlankerhand 10000 hinzufüge.«

»80000 also …«, sagte Herr Grünlich; und dann machte er eine Mundbewegung, als wollte er sagen: Nicht zu viel; aber es genügt.

Man einigte sich in der liebenswürdigsten Weise, und der Konsul klapperte, als er sich erhob, zufrieden mit dem großen Schlüsselbund in seiner Beinkleidtasche.Erst mit den 80000 hatte er die »traditionelle Höhe der Barmitgift« erreicht.

Hierauf empfahl sich Herr Grünlich und reiste nach Hamburg ab.Tony verspürte wenig von ihrer neuen Lebenslage.Niemand hinderte sie, bei Möllendorpfs, Langhals', Kistenmakers und im eignen Hause zu tanzen, auf dem Burgfelde und den Travenwiesen Schlittschuh zu laufen und die Huldigungen der jungen Herren entgegenzunehmen …Mitte Oktober hatte sie Gelegenheit, der Verlobungsgesellschaft beizuwohnen, die man bei Möllendorpfs zu Ehren des ältesten Sohnes und Julchen Hagenströms veranstaltete.»Tom!« sagte sie.»Ich gehe nicht hin.Es ist empörend!« Aber sie ging dennoch hin und unterhielt sich aufs beste.

Im übrigen hatte sie sich mit den Federstrichen, die sie der Familiengeschichte hinzugefügt, die Erlaubnis erworben, mit der Konsulin oder allein in allen Läden der Stadt Kommissionen größeren Stiles zu machen und für ihre Aussteuer, eine vornehme Aussteuer, Sorge zu tragen. Tagelang saßen im Frühstückszimmer am Fenster zwei Nähterinnen, welche säumten, Monogramme stickten und eine Menge Landbrot mit grünem Käse aßen …

»Ist das Leinenzeug von Lentföhr gekommen, Mama?«

»Nein, mein Kind, aber hier sind zwei Dutzend Teeservietten.«

»Schön.– Und er hatte versprochen, es bis heute nachmittag zu schicken.Mein Gott, die Laken müssen gesäumt werden!«

»Mamsell Bitterlich fragt nach den Spitzen für die Kissenbühren, Ida.«

»Im Leinenschrank auf der Diele rechts, Tonychen, mein Kindchen.«

»Line – –!«

»Könntest auch gern mal selbst springen, mein Herzchen …«

»O Gott, wenn ich darum heirate, um selber die Treppen zu laufen …«

»Hast du an die Trauungstoilette gedacht, Tony?«

»Moirée antique, Mama!… Ich lasse mich nicht trauen ohne moirée antique!«

So verging der Oktober, der November. Zur Weihnachtszeit erschien Herr Grünlich, um den heiligen Abend im Kreise der Buddenbrookschen Familie zu verleben, und auch die Einladung zur Feier bei den alten Krögers schlug er nicht aus. Sein Benehmen gegenüber seiner Braut war erfüllt von dem Zartgefühl, das man von ihm zu gewärtigen berechtigt war. Keine unnötige Feierlichkeit! Keine gesellschaftliche Behinderung! Keine taktlosen Zärtlichkeiten! Ein hingehaucht diskreter Kuß auf die Stirn in Gegenwart der Eltern hatte das Verlöbnis besiegelt … Zuweilen verwunderte Tony sich ein wenig, daß sein Glück jetzt der Verzweiflung, die er bei ihren Weigerungen an den Tag gelegt hatte, kaum zu entsprechen schien. Er betrachtete sie lediglich mit einer heiteren Besitzermiene … Hie und da freilich, wenn er zufällig mit ihr allein geblieben war, konnte eine scherzhafte, eine neckische Stimmung ihn überkommen, konnte er den Versuch machen, sie auf seine Knie zu ziehen, um seine Favoris ihrem Gesichte zu nähern, und sie mit vor Heiterkeit zitternder Stimme zu fragen: »Habe ich dich doch erwischt? Habe ich dich doch noch ergattert?… « Worauf Tony antwortete: »O Gott, Sie vergessen sich!« und sich mit Geschicklichkeit befreite.

Herr Grünlich kehrte bald nach dem Weihnachtsfeste nach Hamburg zurück, denn sein reges Geschäft forderte unerbittlich seine persönliche Gegenwart, und Buddenbrooks stimmten mit ihm stillschweigend darin überein, daß Tony vor der Verlobung Zeit genug gehabt habe, seine Bekanntschaft zu machen.

Die Wohnungsfrage ward brieflich geordnet.Tony, die sich ganz außerordentlich auf das Leben in einer Großstadt freute, gab dem Wunsche Ausdruck, sich im Innern Hamburgs niederzulassen, wo ja auch – und zwar in der Spitalerstraße – sich Herrn Grünlichs Kontore befanden.Allein der Bräutigam erlangte mit männlicher Beharrlichkeit die Ermächtigung zum Ankaufe einer Villa vor der Stadt, bei Eimsbüttel …in romantischer und weltentrückter Lage, als idyllisches Nestchen so recht geeignet für ein junges Ehepaar – »procul negotiis« – nein, er hatte sein Latein gleichfalls noch nicht völlig vergessen!

Es verging der Dezember, und zu Beginn des Jahres sechsundvierzig ward Hochzeit gemacht. Es gab einen prächtigen Polterabend, bei dem die halbe Stadt anwesend war. Tonys Freundinnen – darunter auch Armgard von Schilling, die in einer turmhohen Kutsche zur Stadt gekommen war – tanzten mit Toms und Christians Freunden –, darunter auch Andreas Gieseke, Sohn des Branddirektors und studiosus iuris, sowie Stephan und Eduard Kistenmaker, von »Kistenmaker & Sohn« –, im Eßsaale und auf dem Korridor, der zu diesem Behufe mit Talkum bestreut worden war …Für das Poltern sorgte in erster Linie Konsul Peter Döhlmann, der auf den Steinfliesen der großen Diele alle irdenen Töpfe zerschlug, deren er habhaft werden konnte.

Frau Stuht aus der Glockengießerstraße hatte wieder einmal Gelegenheit, in den ersten Kreisen zu verkehren, indem sie Mamsell Jungmann und die Schneiderin am Hochzeitstage bei Tonys Toilette unterstützte. Sie hatte, strafe sie Gott, niemals eine schönere Braut gesehen, lag, so dick sie war, auf den Knien und befestigte mit bewundernd erhobenen Augen die kleinen Myrtenzweiglein auf der weißen moirée antique Dies geschah im Frühstückszimmer.Herr Grünlich wartete in langschößigem Frack und seidener Weste vor der Tür.Sein rosiges Gesicht zeigte einen ernsten und korrekten Ausdruck; auf der Warze an seinem linken Nasenflügel bemerkte man ein wenig Puder, und seine goldgelben Favoris waren mit Sorgfalt frisiert.

Droben in der Säulenhalle, denn dort sollte die Trauung stattfinden, hatte sich die Familie versammelt – eine stattliche Gesellschaft! Da saßen die alten Krögers, ein wenig kümmerlich beide schon, aber wie stets die distinguiertesten Erscheinungen. Da waren Konsul Krögers mit ihren Söhnen Jürgen und Jakob, welch letzterer, wie die Verwandten Duchamps, von Hamburg gekommen war. Da war Gotthold Buddenbrook und seine Frau, die geborene Stüwing, mit Friederike, Henriette und Pfiffi, die sich leider alle drei wohl nicht mehr verheiraten würden … Da war die mecklenburgische Nebenlinie durch Klothildens Vater, Herrn Bernhardt Buddenbrook vertreten, der von »Ungnade« hereingekommen war und mit großen Augen das unerhört herrschaftliche Haus seines reichen Verwandten betrachtete. Die in Frankfurt hatten nur Geschenke geschickt, denn die Reise war doch zu umständlich … An ihrer Stelle aber waren, als einzige, die nicht der Familie zugehörten, Doktor Grabow, der Hausarzt, und Mamsell Weichbrodt, Tonys mütterliche Freundin, zugegen – Sesemi Weichbrodt mit ganz neuen grünen Haubenbändern über den Seitenlocken und einem schwarzen Kleidchen. »Sei glöcklich, du gutes Kind! « sagte sie, als Tony an Herrn Grünlichs Seite in der Säulenhalle erschien, reckte sich empor und küßte sie mit leise knallendem Geräusch auf die Stirn. – Die Familie war zufrieden mit der Braut; Tony sah hübsch, unbefangen und heiter aus, wenn auch ein wenig blaß vor Neugier und Reisefieber.

Die Halle war mit Blumen geschmückt und ein Altar an ihrer rechten Seite errichtet worden. Pastor Kölling von St. Marien hielt die Trauung, wobei er mit starken Worten im besonderen zur Mäßigkeit ermahnte. Alles verlief nach Ordnung und Brauch. Tony brachte ein naives und gutmütiges »Ja« heraus, während Herr Grünlich zuvor »Hä-ä-hm! « sagte, um seine Kehle zu reinigen. Dann ward ganz außerordentlich gut und viel gegessen.

Während droben im Saale die Gäste, mit dem Pastor in ihrer Mitte, zu speisen fortfuhren, geleiteten der Konsul und seine Gattin das junge Paar, das sich reisefertig gemacht hatte, in die weißnebelige Schneeluft hinaus. Der große Reisewagen hielt, mit Koffern und Taschen bepackt, vor der Haustür.

Nachdem Tony mehrere Male die Überzeugung ausgesprochen hatte, daß sie sehr bald zu Besuch nach Hause kommen und daß auch der Besuch der Eltern in Hamburg nicht lange auf sich warten lassen werde, stieg sie guten Mutes in die Kutsche und ließ sich von der Konsulin sorgfältig in die warme Pelzdecke hüllen.Auch ihr Gatte nahm Platz.

»Und …Grünlich«, sagte der Konsul, »die neuen Spitzen liegen in der kleineren Handtasche zu oberst.Sie nehmen sie vor Hamburg ein bißchen unter den Paletot, wie?Diese Akzise …man muß das nach Möglichkeit umgehen.Leben Sie wohl!Leb' wohl, noch einmal, meine liebe Tony!Gott sei mit dir!«

»Sie werden doch in Arensburg gute Unterkunft finden?« fragte die Konsulin …

»Bestellt, teuerste Mama, alles bestellt!« antwortete Herr Grünlich.

Anton, Line, Trine, Sophie verabschiedeten sich von »Ma'm Grünlich« …

Man war im Begriffe, den Schlag zu schließen, als Tony von einer plötzlichen Bewegung überkommen ward.Trotz der Umstände, die es verursachte, wickelte sie sich noch einmal aus der Reisedecke heraus, stieg rücksichtslos über Herrn Grünlichs Knie hinweg, der zu murren begann, und umarmte mit Leidenschaft ihren Vater.

»Adieu, Papa …Mein guter Papa!« Und dann flüsterte sie ganz leise: »Bist du zufrieden mit mir?«

Der Konsul preßte sie einen Augenblick wortlos an sich; dann schob er sie ein wenig von sich und schüttelte mit innigem Nachdruck ihre beiden Hände …

Hierauf war alles bereit. Der Schlag knallte, der Kutscher schnalzte, die Pferde zogen an, daß die Scheiben klirrten, und die Konsulin ließ ihr Batisttüchlein im Winde spielen, bis der Wagen, der rasselnd die Straße hinunterfuhr, im Schneenebel zu verschwinden begann.

Der Konsul stand gedankenvoll neben seiner Gattin, die ihre Pelzpelerine mit graziöser Bewegung fester um die Schultern zog.

»Da fährt sie hin, Bethsy.«

»Ja, Jean, das Erste, das davongeht.– Glaubst du, daß sie glücklich ist mit ihm?«

»Ach, Bethsy, sie ist zufrieden mit sich selbst; das ist das solideste Glück, das wir auf Erden erlangen können.«

Sie kehrten zu ihren Gästen zurück.

Fünfzehntes Kapitel

Thomas Buddenbrook ging die Mengstraße hinunter bis zum »Fünfhausen«.Er vermied es, oben herum durch die Breitestraße zu gehen, um nicht der vielen Bekannten wegen den Hut beständig in der Hand tragen zu müssen.Beide Hände in den weiten Taschen seines warmen, dunkelgrauen Kragenmantels schritt er ziemlich in sich gekehrt über den hartgefrorenen, kristallisch aufblitzenden Schnee, der unter seinen Stiefeln knarrte.Er ging seinen eigenen Weg, von dem niemand wußte …Der Himmel leuchtete hell, blau und kalt; es war eine frische, herbe, würzige Luft, ein windstilles, hartes, klares und reinliches Wetter von fünf Grad Frost, ein Februartag sondergleichen.

Thomas schritt den »Fünfhausen« hinunter, er durchquerte die Bäckergrube und gelangte durch eine schmale Querstraße in die Fischergrube.Diese Straße, die in gleicher Richtung mit der Mengstraße steil zur Trave hin abfiel, verfolgte er ein paar Schritte weit abwärts, bis er vor einem kleinen Hause stand, einem ganz bescheidenen Blumenladen mit schmaler Tür und dürftigem Schaufensterchen, in dem ein paar Töpfe mit Zwiebelgewächsen nebeneinander auf einer grünen Glasscheibe standen.

Er trat ein, wobei die Blechglocke oben an der Tür zu kleffen begann wie ein wachsames Hündchen. Drinnen vorm Ladentisch stand im Gespräch mit der jungen Verkäuferin eine kleine, dicke, ältliche Dame in türkischem Umhang. Sie wählte unter einigen Blumentöpfen, prüfte, roch, mäkelte und schwatzte, daß sie beständig genötigt war, sich mit dem Schnupftuch den Mund zu wischen. Thomas Buddenbrook grüßte sie höflich und trat zur Seite … Sie war eine unbegüterte Verwandte der Langhals', eine gutmütige und schwatzhafte alte Jungfer, die den Namen einer Familie aus der ersten Gesellschaft trug, ohne dieser Gesellschaft doch zuzugehören, die nicht zu großen Diners und Bällen, sondern nur zu kleinen Kaffeezirkeln gebeten ward und mit wenigen Ausnahmen von aller Welt »Tante Lottchen« genannt wurde. Einen in Seidenpapier gewickelten Blumentopf unter dem Arme, wandte sie sich zur Tür, und Thomas sagte, nachdem er aufs neue gegrüßt hatte, mit lauter Stimme zum Ladenmädchen: »Geben Sie mir … ein paar Rosen, bitte … Ja, gleichgültig. La France … «

Dann als Tante Lottchen die Tür hinter sich geschlossen hatte und verschwunden war, sagte er leiser: »So, leg' nur wieder weg, Anna …Guten Tag, kleine Anna!Ja, heute bin ich recht schweren Herzens gekommen.«

Anna trug eine weiße Schürze über ihrem schwarzen, schlichten Kleide.Sie war wunderbar hübsch.Sie war zart wie eine Gazelle und besaß einen beinahe malaiischen Gesichtstypus: ein wenig hervorstehende Wangenknochen, schmale, schwarze Augen voll eines weichen Schimmers und einen mattgelblichen Teint, wie er weit und breit nicht ähnlich zu finden war.Ihre Hände, von derselben Farbe, waren schmal und für ein Ladenmädchen von außerordentlicher Schönheit.

Sie ging hinter dem Verkaufstisch an das rechte Ende des kleinen Ladens, wo man durchs Schaufenster nicht gesehen werden konnte.Thomas folgte ihr diesseits des Tisches, beugte sich hinüber und küßte sie auf die Lippen und die Augen.

»Du bist ganz verfroren, du Ärmster!« sagte sie.

»Fünf Grad!« sagte Tom …»Ich habe nichts gemerkt, ich ging ziemlich traurig hierher.«

Er setzte sich auf den Ladentisch, behielt ihre Hand in der seinen und fuhr fort: »Ja, hörst du, Anna?…heute müssen wir nun vernünftig sein.Es ist so weit.«

»Ach Gott …! « sagte sie kläglich und erhob voll Furcht und Kummer ihre Schürze …

»Einmal mußte es doch herankommen, Anna …So!nicht weinen!Wir wollten doch vernünftig sein, wie?– Was ist da zu tun?Dergleichen muß durchgemacht werden.«

»Wann …?« fragte Anna schluchzend.

»Übermorgen.«

»Ach Gott …warum übermorgen?Eine Woche noch …Bitte!…Fünf Tage!…«

»Das geht nicht, liebe kleine Anna.Alles ist bestimmt und in Ordnung …Sie erwarten mich in Amsterdam …Ich könnte auch nicht einen Tag zulegen, wenn ich es noch so gerne wollte!«

»Und das ist so fürchterlich weit fort …!«

»Amsterdam? Pah! gar nicht! Und denken kann man doch immer aneinander, wie? Und ich schreibe! Paß auf, ich schreibe, sowie ich dort bin … «

»Weißt du noch …«, sagte sie, »vor einundeinhalb Jahren?Beim Schützenfest?…«

Er unterbrach sie entzückt …

»Gott, ja, einundeinhalb Jahre!…Ich hielt dich für eine Italienerin …Ich kaufte eine Nelke und steckte sie ins Knopfloch …Ich habe sie noch …Ich nehme sie mit nach Amsterdam …Was für ein Staub und eine Hitze war auf der Wiese!…«

»Ja, du holtest mir ein Glas Limonade aus der Bude nebenan …Ich erinnere das wie heute!Alles roch nach Schmalzgebäck und Menschen …«

»Aber schön war es doch!Sahen wir uns nicht gleich an den Augen an, was für eine Bewandtnis es mit uns hatte?«

»Und du wolltest mit mir Karussell fahren …aber das ging nicht; ich mußte doch verkaufen!Die Frau hätte gescholten …«

»Nein, es ging nicht, Anna, das sehe ich vollkommen ein.«

Sie sagte leise: »Und es ist auch das Einzige geblieben, was ich dir abgeschlagen habe.«

Er küßte sie aufs neue, auf die Lippen und die Augen.

»Adieu, meine liebe, gute, kleine Anna!…Ja, man muß anfangen, Adieu zu sagen!«

»Ach, du kommst doch morgen noch einmal wieder? «

»Ja, sicher, um diese Zeit. Und auch übermorgen früh noch, wenn ich mich irgend losmachen kann … Aber jetzt will ich dir eines sagen, Anna … Ich gehe nun ziemlich weit fort, ja, es ist immerhin recht weit, Amsterdam … und du bleibst hier zurück. Aber wirf dich nicht weg, hörst du, Anna?… Denn bis jetzt hast du dich nicht weggeworfen, das sage ich dir! «

Sie weinte in ihre Schürze, die sie mit ihrer freien Hand vors Gesicht hielt.

»Und du?…Und du?…«

»Das weiß Gott, Anna, wie die Dinge gehen werden!Man bleibt nicht immer jung …du bist ein kluges Mädchen, du hast niemals etwas von heiraten gesagt und dergleichen …«

»Nein, behüte!…daß ich das von dir verlange …«

»Man wird getragen, siehst du … Wenn ich am Leben bin, werde ich das Geschäft übernehmen, werde eine Partie machen … ja, ich bin offen gegen dich, beim Abschied … Und auch du … das wird so gehen … Ich wünsche dir alles Glück, meine liebe, gute, kleine Anna! Aber wirf dich nicht weg, hörst du?… Denn bis jetzt hast du dich nicht weggeworfen, das sage ich dir …! «

Hier drinnen war es warm.Ein feuchter Duft von Erde und Blumen lag in dem kleinen Laden.Draußen schickte schon die Wintersonne sich an, unterzugehen.Ein zartes, reines und wie auf Porzellan gemalt blasses Abendrot schmückte jenseits des Flusses den Himmel.Das Kinn in die aufgeschlagenen Kragen ihrer Überzieher versteckt, eilten die Leute am Schaufenster vorüber und sahen nichts von den beiden, die in dem Winkel des kleinen Blumenladens voneinander Abschied nahmen.